Das Aion - Kinder der Sonne
Blöße zu geben.
Als Ben – vom morgendlichen Gezwitscher der Webervögel geweckt – die Augen aufschlug, sah er, dass Miras Schlafsack leer war. Auch die Kleidung, die er neben sie gelegt hatte, war nicht mehr da.
Ben schaute sich um und fand das Mädchen auf dem Rand des Speicherbeckens sitzend, dort, wo bereits die Strahlen der Morgensonne den Hangarboden berührten. In ihrem Licht tanzten seltsame blaue Punkte um das Mädchen herum. Ben wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah noch einmal genauer hin. Einige der blauen Punkte entpuppten sich als Schmetterlinge. Doch auch der blaue Kolibri vom Vortag umschwirrte Mira sowie zwei große, blaue Libellen.
Als Ben aus dem Schlafsack geschlüpft war, sah er, dass sich auf Miras Schoß eine fingerdünne, blaue Schlange ringelte. Das Mädchen streichelte sie mit zwei Fingern und bewegte dabei die Lippen, als würde es sich mit ihr unterhalten. Von Bens Bewegungen erschreckt, flogen, schwirrten, krochen und hüpften die blauen Kreaturen in alle Richtungen davon, die meisten davon ins Wasser.
»Was war das denn eben?«, staunte Ben, als er das Bassin erreicht hatte und dabei gerade noch die Schwanzflosse eines blauen Fisches erkannte, der zwischen den Körpern der Schläfer in der Tiefe verschwand.
Mira blickte den beiden Libellen nach, dann sah sie zu ihm auf. »Ach, nur das Aion …«
»Das Aion?«
Mira zuckte mit den Schultern und sah sich verstohlen um, als wolle sie sich vergewissern, dass alle blauen Kreaturen fort waren.
Ben setzte sich neben sie. »Wie fühlst du dich? Gut geschlafen?«
Wieder ein Schulterzucken. »Geht so.«
Ben betrachtete ihre makellos verheilte Stirn. »War das auch dieses Aion?«
Mira tastete die Stelle mit den Fingerspitzen ab und nickte. »Würdest du mir einen Gefallen tun und die anderen wecken«, bat sie, bevor Ben eine weitere Frage stellen konnte. »Bitte«, fügte sie hinzu, als er nicht sofort reagierte. »Es ist sehr wichtig!«
Ben legte die Stirn in Falten. »Na, das hoffe ich doch schwer«, nickte er, als er sich erhob. »Schon allein wegen der Schimpftiraden, die ich mir von Jiril gleich werde anhören müssen.«
Mit klopfendem Herzen sah Mira Ben hinterher, wie er zum Schlaflager der anderen schlich und sich im letzten Moment entschied, doch zuerst den Doktor zu wecken.
»Er ist wirklich ziemlich neugierig«, flüsterte eine Stimme in Miras rechtes Ohr.
»Pst!«, machte das Mädchen, woraufhin Ben kurz zu ihr herübersah. Mira lächelte verlegen und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass nicht er gemeint war.
»Vergiss nicht, ihnen von deiner Bestimmung zu erzählen«, raunte die Stimme, als der Alpha sich wieder abgewandt hatte. »Der mit der Gabe wird bezeugen können, dass du die Wahrheit sagst – falls du es ihm erlaubst. Und vergiss nicht die Wucherung!«
»Ja, ja, ja!«, zischte Mira. »Jetzt sei still! Au!«
Mira zuckte zusammen und konnte gerade noch den Reflex unterdrücken, unter ihr Haar zu greifen. Die Besitzerin der Flüsterstimme hatte ihr doch tatsächlich ins Ohr gebissen!
»Verbiete mir nicht das Wort, solange ich bei dir bin!«, raunte sie leicht verärgert. »Dafür zehrt der physische Aufenthalt in deiner Welt zu sehr an meiner Substanz!«
Eine Kaskade von Flüchen und Verwünschungen lenkte Miras Aufmerksamkeit auf das Schlaflager. Ben hatte es nach mehreren Versuchen endlich geschafft, auch Jiril zu wecken, worüber dieser sich jedoch wenig begeistert zeigte. Während er sich aus seinem Schlafsack quälte, wünschte er Ben Pest und Krätze an den Hals.
»Du musst mir bei Gelegenheit unbedingt etwas über diese Sache erzählen, die ihr Schlaf nennt«, bemerkte die Flüsterstimme. »Es muss etwas sehr Schönes sein, wenn ihr euch dermaßen über eine Störung aufregt.« Sie schwieg kurz, als würde sie Jiril zuhören, dann fragte sie: »Was ist das, ein Arsch mit Ohren?«
Mira verdrehte genervt die Augen. »Das erkläre ich dir ein andermal.«
Kurze Zeit später hatten sich alle vor dem Speicherbecken versammelt, doch die Müdigkeit war den Geweckten anzusehen. Dr. Gayot schwebte mit leichter Schlagseite vor dem Bassin, Jiril gähnte ununterbrochen und verteilte griesgrämige Blicke. Lediglich Delius strahlte angesichts seiner starren Roboter-Physiognomie eine gewisse Art von Gelassenheit aus.
Nur Mut, erklang Bens Stimme in ihrem Kopf. Den Mutigen gehört die Welt!
Mira lächelte schief. »Danke für …« Sie stockte und warf einen scheuen Blick in die Runde.
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