Das Aktmodell
dünne Wand trennt mich von ihm. Das ist das Einzige, was ihn daran hindert, mir das Korsett mit der Pfauenfeder vom Leib zu reißen, auf dem geschrieben steht:
La Fiancée
– die Verlobte. Lächerlich!
Na gut, wenn ich mit dieser Scharade schon weitermachen muss, dann will ich meinen Part wenigstens gut spielen. Ich gehe im Salon herum und lege eine arrogante Art an den Tag. Meine Hüften schwingen dabei genau richtig.
“Ah, da seid Ihr ja,
ma chère cousine”
, trällert Madame Chapet charmant. Ich drehe mich nach ihr um und kann es nicht fassen. Wie kann sie mich denn als ihre Cousine bezeichnen?
“Madame Chapet, was sucht Ihr hier in diesem Modehaus?”, frage ich sie.
Madame Chapet klimpert mit den Wimpern und klimpert ein zweites Mal, wobei sie mich hinter ihren Brillengläsern, die an einer Amethystkette hängen, prüfend ansieht.
“Ich bin eine alte Kundin.”
Die Betonung liegt hier auf
alt
, denke ich mir und sage laut: “Wie laufen die Geschäfte? Geht es besser? Oder geht es eher bergab mit den Mädchen?”
“Haltet Euer freches Mundwerk im Zaum, Mademoiselle, oder ich werde meinen Einfluss hier geltend machen und Euch hinauswerfen lassen”, stößt Madame böse hervor.
“Wohl kaum, Madame Chapet. Ihr seid eine Lügnerin und Betrügerin, und Ihr habt mich jetzt zum letzten Mal erniedrigt. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss meine Anprobe zu Ende bringen.”
Ich drehe mich um und genieße es,
La Madame
die kalte Schulter zu zeigen.
“Habe ich Euch nicht aus St. Lazare freigekauft?”, zischt Madame Chapet mir zu, als eine ältere Frau sich vor dem Spiegel bewundert, ganz in pinkfarbene Seide und Federn gehüllt. “Wer hat Euch die Möglichkeit gegeben, in den besten Ateliers von Paris Modell zu stehen? Hat Euch in Kleider gesteckt und Euren Magen mit Nahrung versorgt? So leicht werdet Ihr mich nicht los, Mademoiselle.”
Irritiert sehe ich sie an. Meine Augen verengen sich. “Was wollt Ihr damit sagen?”
“Falls Ihr es bereits vergessen haben solltet,
ma jolie
, der Duke of Malmont hat mich beauftragt, Euch morgen bei der Eröffnung des
Moulin Rouge
zu begleiten. Er hat mit versichert, dass er mir als Anerkennung für meine Bemühungen eine neue Robe bezahlen wird.”
Bevor ich etwas erwidern kann, schnippt Madame Chapet mit den Fingern, und einige Mädchen scheinen aus dem Nichts aufzutauchen und umrunden die Madame mit Schleifen von Maßbändern, Nadelkissen in allen Farben und stellen eine Tasse schwarzen Kaffee mit viel Zucker auf ihre geöffnete Handfläche. Sie besteht darauf, dass sie niemals eine Bestellung ohne süßen Kaffee macht.
Es ist erstaunlich, wie sehr die Mädchen bemüht sind, der Madame zu gefallen. Sie überschlagen sich fast vor Freundlichkeit, zeigen ihr elegante Roben aus schwarz-weißer Seide, pfirsichfarbenem Satin, elfengrünem Taft und dunkelrosafarbenem Samt.
“Ihr werdet sicher sehr elegant darin aussehen, Madame”, schmeichelt die Verkäuferin und klatscht dabei in die Hände. Madame Chapets Brust hebt sich, und ein bezauberndes Lächeln lässt sie für einen Augenblick um glatt fünfzehn Jahre jünger aussehen. Aber letztendlich ist sie dann doch nur eine fette Taube in einem Nest von eleganten Schwalben.
“Meint Ihr wirklich?”, fragt Madame Chapet und hofft auf weitere Komplimente.
Ich versuche, schrecklich gelangweilt zu wirken und schaue auf die schwarze Standuhr, die mit Goldornamenten verziert ist und die Stunden zählt. Zwei Stunden und vierzig Minuten. So lange stehe ich jetzt schon hier im Salon. Der Vorführraum ist ohne Fenster und nur mit Gaslaternen beleuchtet, sodass die Damen das gleiche Licht haben wie auf den Bällen, auf denen sie die Kleider tragen werden.
Mir ist das Licht ziemlich egal, und jetzt muss ich erst mal auf die Toilette.
“Pardon, Mademoiselle, wo ist die Toilette?”, frage ich die hübsche Verkäuferin.
“Dort oben, Mademoiselle.” Sie deutet dabei auf eine gewundene Treppe.
Ich schaue nach Madame Chapet, die gerade von einer Platte mit Marzipan kostet und einer Verkäuferin zuhört. Jene schwärmt Madame in den höchsten Tönen vor, wie hervorragend die Farbe des orientalischen Kreppstoffes den goldenen Glanz in ihren Haaren betont.
Ich steige die Treppe nach oben und hoffe, dass Madame verschwunden ist, bis ich wiederkomme. Den Flur hoch und runter laufend, halte ich nach etwas Ausschau, was einem Badezimmer ähneln könnte. Standesgemäß für dieses edle Modehaus wäre zum Beispiel ein
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