Das Aktmodell
Bahnfahrt von Paris bis Cherbourg eine Pistole an die Rippen gehalten, und an den anderen war er gefesselt gewesen. Sie bewachten ihn, bis das Schiff in See stach, und dann erst verschwanden sie.
Nachdem er von Cherbourg auf der
Empress of Japan
gesegelt war, musste er wegen der rauen See in Dover eine Pause einlegen. Einige Tage verbrachte er in dieser Hafenstadt an der englischen Küste und wanderte die engen Gassen auf und ab. Die heruntergekommenen Gebäude boten wenig Unterhaltung bis auf die musikalischen Darbietungen einiger Nachzügler britischer Soldaten.
Schließlich gelang es ihm doch, eine Passage zurück nach Frankreich auf einem Schaufelraddampfer zu buchen.
Der Geruch des Salzwassers belebte Paul. Er hatte in den letzten Wochen Gefühle erlebt, von denen er nicht wusste, dass sie überhaupt existierten. Zum ersten Mal in seinem Leben war er überwältigt von einem Verlangen, dass er weder durch Kunst noch durch Sex stillen konnte. Es handelte sich eher um ein spirituelles Sehnen nach Autumns Nähe.
Er wollte sie lieben und von ihr geliebt werden.
Sie war nicht nur schön, sondern auch intelligent und umsichtig. Die Sehnsucht nach ihr hatte ihn die ganze Zeit auf dem Schiff verfolgt, und eine Dringlichkeit zwang ihn dazu, sein Leben in diesem Sturm auf See zu riskieren.
Vor knapp einer Stunde war er nach Paris zurückgekehrt und hatte sich sofort zu dem Haus in der Rue des Moulins aufgemacht. Er würde Autumn mit sich nehmen und sie niemals mehr hergeben. Ganz egal, was er dafür tun musste.
Dass er die ganze Zeit an sie dachte und die romantischen Gefühle für sie ihn schier um den Verstand brachten, machte seine derzeitige Situation nicht gerade einfacher. Verzweifelt versuchte er seine Furcht zu unterdrücken und wehrte sich gegen die körperlichen Veränderungen, die sich an ihm vollzogen.
Zweifellos war er gealtert.
Graue Schläfen, Lachfältchen um seine Augen und den Mund. Schwielige Hände. Trotzdem war er nach Paris zurückgekehrt, bereit, den Duke zu töten, falls es sein musste. In seiner Tasche hatte er eine Pistole, die er einem betrunkenen britischen Grenadier abgenommen hatte, die er ohne zu zögern einsetzen würde.
Die hasserfüllten Augen des Duke verfolgten ihn. Wieso kamen ihm diese Augen so bekannt vor? Er hatte das Gefühl, als ob die Dunkelheit, die ihn seit achtunddreißig Jahren umgab, langsam ihren Schleier lüftete und ihm bald ein großes Geheimnis enthüllen würde.
Noch nicht! Nicht bevor ich Autumn in meinen Armen halte und ihr erklärt habe, was mit mir passiert ist.
Er schellte erneut. Wo konnte sie sein? Waren all diese Mädchen mit Kunden beschäftigt? Falls das der Fall war, dann konnte doch Madame Chapet die Tür öffnen. Dieselbe Dringlichkeit, die ihn bereits auf dem Schiff befallen hatte, stellte sich auch jetzt wieder ein. Doch dieses Mal hatte er Angst, dass es nicht nur die Sehnsucht nach Autumn war, sondern noch ein anderes Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Als sich die Tür schließlich öffnete, war Paul überrascht. Die kleine Näherin, Delphine, stand im Eingang und versuchte Haltung zu bewahren. Ihre weiße Kappe war auf dem Kopf verrutscht, die gestärkte weiße Schürze zerknittert, und von ihrem Mieder fehlten einige Knöpfe und gestatteten ihm einen Blick auf ihre makellosen Brüste. Und war das ihr Petticoat, den sie hinter dem Rücken versteckte?
Er beugte sich vor und warf einen Blick in den Empfangssalon des Bordells. Niemand war da. Er schaute hinüber zu der Treppe aus echtem Onyx und hätte schwören können, dort eben einen jungen Mann ohne Hemd gesehen zu haben, der schnurstracks in einem Zimmer verschwunden war. Er war eher amüsiert als geschockt, als ihm bewusst wurde, dass er die beiden mit seinem Läuten beim Liebesspiel unterbrochen hatte.
“Oh, Monsieur Borquet, Ihr seid es!” Delphine bekreuzigte sich, ihre Augen füllten sich mit Tränen. “Mademoiselle Autumn wird so glücklich sein über Eure Heimkehr”, sagte sie mit Erstaunen in der Stimme und öffnete die Tür weiter, damit er eintreten konnte.
“Wo ist Autumn?”
“Sie ist nicht hier, Monsieur. Niemand ist da … außer mir.” Sie schlug die Augen nieder, obwohl es offensichtlich war, dass sie log.
“Wohin ist sie gegangen? Ihr müsst es mir unbedingt sagen!”
“Sie … sie ist mit Lord Bingham ins
Moulin Rouge
gegangen.”
“Sie ist was?”, stieß Paul mit lauter Stimme hervor.
“Ja, sie hat mit Monsieur le duc und Madame Chapet vorhin
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