Das Aktmodell
Himmel ignoriert mich, genauso wie die dunklen Wolken, die versuchen, ihn zu verdecken. Zum Glück keine Sturmwolken, kein Donner und hoffentlich auch keine Blitze oder Regenpfützen. Aber für einen Sommermorgen ist es ziemlich kalt.
Eine kühle Brise spielt mit den Samtzipfeln, die um meine Beine wehen. So als ob sie wüssten, dass ich kein Höschen trage und mich entblößen wollten. Ich achte nicht drauf. Ich muss unbedingt ein paar Antworten finden. Und zwar schnell.
Wieso sah das Studio vorhin so anders aus? Wo war der alte Künstler? Wie lange war ich bewusstlos?
Und was war mit Paul Borquet? Der konnte nicht echt gewesen sein. Ich hatte mir das Ganze wahrscheinlich nur eingebildet.
Ich atme tief aus und sehe meinen Atem in der Kälte wie Rauch vor mir. Trotzdem schwitze ich und höre mein eigenes Schnaufen wie ein überlautes Echo. Mein langes Cape schleift auf der Straße, und ich trage flache Schnürstiefel mit abgeflachter Spitze. Ich will es nicht wahrhaben, was mir da eben durch den Kopf geht. Nichts was ich hier sehe, fühlt sich real an. Das kann doch nicht sein. Wahrscheinlich liege ich in Paris im Krankenhaus, Schläuche kommen aus meiner Nase, meinem Mund und aus allen anderen Löchern. Meine Mutter springt um mich herum, während sie mit einem hübschen französischen Doktor flirtet, der ihr versichert, dass ich bald wieder aufwachen werde. Nur eine Beule, als sie während eines Gewitters ausrutschte, wird er ihr sagen.
Natürlich würde meine Mutter nachfragen. Sie sagen, sie wäre nackt gewesen? Und hatte ihre Hand fest um die Erektion einer ägyptischen Statue geschlossen? Meine Tochter?
Ja, Mutter. Deine Tochter, die den erotischsten Traum aller Zeiten hat und daraus auch auf keinen Fall so schnell aufwachen will. Also schauen wir mal, was als Nächstes passiert.
Ich schaue mir das Straßenpflaster an. Ein leiser Seufzer entflieht meinen Lippen und zieht ein Gefühl der Frustration hinter sich her, als ob mein Atem einen Moment an einer Feder hängen bleibt. Überall sehe ich Baustellen. So als ob Paris sich einem Facelifting unterzieht.
Meine Faszination kann ich nicht so genau beschreiben, aber ich fühle sie am ganzen Körper, bis tief unten in mein Geschlecht. Es kommt mir so vor, als ob
ich
die Stadt Paris sei und mein Körper, mein Geist und auch mein Sexleben gerade einer Rundumerneuerung unterzogen würden. Mein Körper fühlt sich jünger und straffer an. Meine Kurven sind gefährlich. Ich bin eine Sexbombe, Baby.
Dieses sinnliche Gefühl nimmt von mir Besitz und lässt mich nicht mehr los. Ich atme es ein. Behalte es in mir. Macht fühlt sich irre an. Sexuelle Macht ist noch unbeschreiblicher.
So, Jungs, macht euch auf alles gefasst, jetzt komme ich!
Ich überquere die Straße, und überwältigender Blumenduft steigt mir in die Nase und verführt mich. Morgendlicher Tau liegt noch auf der Plane des Blumenstandes. Untendrunter sehe ich eine alte Frau, die einen abgetragenen schwarzen Schal um den Hals geschlungen hat und liebevoll ihre Rosen, Lilien und Veilchen zu Sträußen bindet. Die Alte zieht den Schal ein wenig nach hinten und lächelt mich an. So sehr bin ich darin versunken, sie anzusehen, dass ich den Mann nicht bemerke, der von hinten auf mich zukommt …
“Pardon, Mademoiselle”, lallt der junge Dandy und rempelt mich an. Er trägt einen schwarzen Zylinder und einen Frack. Offensichtlich ist er ziemlich verwirrt, entweder über meinen Auftritt oder über die Umgebung hier.
Ich rümpfe die Nase, denn ein starker Alkoholgeruch zieht durch die Luft. Wahrscheinlich üben die sanft geschwungenen Kurven einer Weinflasche eine stärkere Faszination auf ihn aus als die Reize einer Frau. Der junge Mann torkelt über den Boulevard, mit sich selbst sprechend, als aus dem Nichts heraus eine Lumpengestalt mit einem Weidenkorb auf dem Rücken hinter ihm auftaucht. Ich drehe meinen Kopf und schnüffle. Wonach riecht es hier plötzlich? Sehr übel, als ob sich jemand seit Wochen nicht gewaschen hat.
Mit Erstaunen beobachte ich die vermummte Gestalt. In einer Hand trägt sie eine Laterne und in der anderen einen scharf gebogenen Haken, mit dem sie aus der Manteltasche des Dandys einige Wertgegenstände entwendet und in den Korb wirft.
“Passt auf, Monsieur!”, schreie ich und versuche den jungen Mann zu warnen. Aber er ist zu betrunken und torkelt besoffen weiter, ohne sich nach mir umzusehen.
“Schert Euch um Eure eigenen Angelegenheiten, Mademoiselle.”
War das eine
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