Das Aktmodell
Spaß.
Ich schaue mich um und versuche irgendeine Spur der alten Lumpensammlerin zu finden. Ich verlangsame meine Schritte. Mir wird klar, dass ich sie verloren habe. Ausgerechnet jetzt, wo so viel Adrenalin durch meinen Körper pumpt, dass ich den ganzen Tag weiterlaufen könnte. Doch ich gebe nicht auf, nicht einmal als ein kalter Wind durch meinen Samtumhang bläst und wie ein scharfes Messer durch meinen Körper fährt. Meine Zähne klappern. Feuchtigkeit kriecht unter meine Kleider, prickelt eisig auf meiner Haut. Die Gasse führt mich zum Hintereingang eines verrotteten Gebäudes.
Ein neugieriger Impuls lässt mich über die Schwelle in die kühle Weite einer riesigen Fabrikhalle treten. Ich verrenke mir fast den Hals, als ich nach oben schaue. Was für ein gigantischer Anblick. Die Halle ist so groß wie ein Flugzeughangar und verliert sich scheinbar in der Unendlichkeit. Dieses gigantische, regenschirmförmige Gebäude mit den gusseisernen Gittern vor den Fenstern sieht alt aus, sehr alt. Und es scheint sich kilometerweit auszudehnen. Ich zähle mindestens zehn Pavillons mit gusseisernen Geländern und Oberlichtern, dazu einige Keller zum Lagern von Vorräten.
Aufgeregtes Stimmengewirr holt mich aus meinen Gedanken, und ich drehe mich um. Händler entladen ihre Karren und stapeln die Waren meterhoch zwischen alten rostigen Waagen und überall, wo sie nur Platz finden können.
Gleichzeitig eilen Männer mit Handkarren an mir vorbei, Käufer und Lieferanten, die ihre Waren an den Ständen abliefern oder ihre Produkte an die draußen vorbeischlendernden Frühaufsteher verkaufen wollen.
Wie spät ist es eigentlich? Fünf Uhr, sechs Uhr?
Messerschleifer, Hundewäscher und sogar ein kleiner Esel, der einen Karren mit Rattanstühlen zieht, überholen mich. Fleischverkäufer, Händler für Kaffee, Suppe und Milch, Obst- und Austernhändler überrennen sich fast, um den bestmöglichen Verkaufsstand zu ergattern.
Neugierig atme ich die intensiven Gerüche ein, die mich umgeben. Der Duft von frischer Minze vermischt sich mit dem von Thymian und Tomaten. Es ist fast zu überwältigend für meine Nase. Sinnliche Düfte, primitive Geräusche und lüsterne Blicke umgeben mich. Zwischen den Ständen rennen Ratten herum und naschen von den Gemüseabfällen. Prostituierte lugen aus dunklen Korridoren, und Akkordeonspieler verlieren sich in einer schwermütigen Melodie. Berge von erbsengrünem Kohl, Orangen und Kürbis türmen sich vor mir auf. Überall stehen Lattenkisten mit roten, reifen Tomaten.
Eine seltsam aussehende Gänsehaut breitet sich nun über meine Arme aus. Wie kleine Nadelspitzen. Wo zum Teufel bin ich?
Der Knall einer Peitsche reißt mich aus meinen Betrachtungen. Alarmiert drehe ich mich um. Dann sehe ich einen mindestens einhundertzwanzig Kilo schweren Mann mit langen dunklen Locken und einem schwarzen Bart, wie er mit der Peitsche jemanden antreibt, der seine arme Frau zu sein scheint. Sie ist wie ein Pony vor eine Karre gespannt und muss einen Berg von Gemüse ziehen. Ihr angestrengter Atem unterstreicht die Qual jeden ihrer Schritte.
“Beeilt Euch, Hure!”, treibt der Mann die Frau an und dreht sich dann knurrend zu mir um. “Aus dem Weg, dummes Weib.” Er drängt mich fluchend zur Seite.
“Seht Euch lieber vor, wen Ihr so übel beschimpft.
Patapouf!”
“Hure!”, schreit er mich an.
Zisch! Die Peitsche knallt nun direkt neben mir gegen einen hölzernen Pfosten. Entsetzt, mit klopfendem Herzen, bin ich unfähig, mich zu bewegen. Der Peitschenschlag war so hart, dass sich Holzsplitter lösen und mir ins Gesicht fliegen. Blut rinnt über meine Wangen und in meinen Mund, aber ich schmecke es nicht einmal. Ich drehe mich um und sehe den furchterregenden dicken Mann mit der Peitsche auf mich zukommen.
“
Arrête
, Diebin!”, schreit er mich an. “Oder ich schlage Euch mit meiner Peitsche die Haut von den Knochen.”
“Ich bin keine Diebin!”, rufe ich laut.
Der hat Nerven. Nur weil ich ihn ein wenig beschimpft und ihn ein Stück Scheiße genannt habe, muss der mich doch nicht gleich Diebin schimpfen. Das Blut gerinnt mir in den Adern, als ich sehe, wie er seinen Arm hebt und die Peitsche wie einen Drachenschwanz durch die Luft sausen lässt. Ich schlucke. Diesmal wird er sein Ziel nicht verfehlen.
Ich werfe mich auf den Boden, halte mir die Arme über den Kopf und schaukle mit dem Oberkörper vor und zurück, ignoriere die Holzsplitter und das Sägemehl, das sich in meinem Umhang
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