Das Aktmodell
Frau? Die Stimme ist zwar rau, aber sie hört sich definitiv feminin an.
“Das geht mich schon etwas an”, rufe ich zurück. “Ihr seid eine Diebin, Madame, oder noch Schlimmeres.” Nichts hiervon ist real, sage ich mir wieder und wieder und trete einen Schritt näher. Diese seltsame Kreatur fasziniert mich.
“Ihr seid ein ziemlich freches Luder, Mademoiselle!”
Überrascht von meinem Mut hält sie inne und verlagert das Gewicht unter dem schweren Korb. Sie könnte um die vierzig sein, aber durch ihre gebückte Haltung wirkt sie viel älter. Die grauen Lumpen, die sie trägt und aus denen an manchen Stellen ein wenig Seide hervorblitzt, lassen den Eindruck einer von Armut gezeichneten Frau entstehen, und fast könnte man Mitleid haben. Aber trotzdem steckt auch etwas Berechnendes in ihr. Was mir am meisten an ihr auffällt, sind ihre schicken schwarzen Lederstiefel. Sie sieht, dass ich sie anstarre, und grinst.
“Die gefallen Euch?”
“Wo habt Ihr die denn gestohlen?”, frage ich frech.
“Gestern noch gehörten sie einer schicken Frau aus der Rue Saint-Honoré.” Sie zieht ihren Rock mit besagtem Haken nach oben und zeigt sie mir. “Jetzt zieren sie die schwieligen Füße der alten Mathilde,
ma fille.”
Hatte sie mich eben eine Hure genannt?
“Ihr seid vielleicht eine Diebin”, erwidere ich, “aber ich bin deshalb noch lange keine Hure.”
“
Eh bien?
Wirklich? Was könntet Ihr sonst sein, mit Eurem feuerroten Haar, Mademoiselle?”
Ich zucke zusammen, als sie meine Haare berühren will, aber ich entziehe mich nicht. Irgendetwas an ihr fasziniert mich, als ob sie in diesem Melodrama eine Schlüsselfunktion hat.
“Ich habe diese Haarfarbe nur einmal zuvor gesehen, und zwar bei der Mätresse eines Gentleman. Sie war in ausgefallene Seidenkostüme gekleidet, mit Federn geschmückt und duftete nach getrockneten Nelken und Rosen.”
Ich rümpfe die Nase. “Fragt mich nicht, nach was Ihr riecht …”
Bevor ich sie aufhalten kann, rempelt sie mich an, reißt mein langes, fließendes Cape auf und zieht es mir dabei fast aus. Meine nackten Brüste schauen ein wenig unter dem Satinkleid hervor, die braunen Nippel sind aufgerichtet, und meine Haut hat die Farbe eines Pfirsichs.
Die Frau bekommt ganz große Augen. “Bei Gott, niemals zuvor habe ich irgendjemanden hier auf den Straßen von Paris in Unterwäsche herumlaufen sehen.”
Ich ziehe das Cape fester um mich. “Jemand hat meine Kleider gestohlen.” Mehr will ich ihr nicht sagen.
Die alte Mathilde hält sich an ihrem hölzernen Rosenkranz fest. “Ich weiß, Mademoiselle. Ich habe Euch beobachtet.”
“Mich? Wieso?”
Wann ist die denn in meinen sinnlich-erotischen Traum eingestiegen? Der Korb mit dem Diebesgut der Nacht lastet schwer auf dem Rücken der Alten, und gebeugt steht sie vor mir.
“Ich habe Euch durch die Straßen verfolgt heute Nacht. Von der Rue Saint-Merri über den Boulevard de Sébastopol und die Rue Berger bis hierher.” Sie kichert leise vor sich hin. “Der Geruch von Sex hängt über Euch, Mademoiselle.”
Ich rolle mit den Augen und befeuchte meine Lippen. “Ihr habt ja keinen blassen Schimmer.”
Ihr Gesicht ist zu einer grinsenden Grimasse verzerrt. “Kann der Künstler mit seinem Pinsel wirklich so gut umgehen, wie erzählt wird?”
In der Morgendämmerung erkenne ich, dass sie es genießt, mit meinen Gefühlen zu spielen.
“Künstler? Wen meint Ihr?”
“Paul Borquet.”
Ich schüttle sie an den Schultern, obwohl ihr Gestank mich fast umhaut. Wie in Essig eingelegte tote Ratten.
“Was wisst Ihr über Paul Borquet?” Mein Puls rast. “Los, raus damit!”
“Ihr müsst eine heiße Möse haben, Mademoiselle. Ganz feucht, saftig und eng. Genau richtig für einen Mann, um seinen harten Ständer in sie einzuführen und sich in ihr zu entladen.” Dabei leckt sie sich mit ihrer feuchten Zunge über die Lippen. Dann streckt sie sie mir entgegen. Das wirkt allerdings eher komisch als sexuell erregend. Aber ihr Kommentar lässt mich nicht los.
“Jetzt habe ich aber genug von vulgären Anspielungen”, schreie ich sie an. “Was wisst Ihr über Paul Borquet?”
“Er sucht nach Euch, Mademoiselle”, zischt sie. “Und wenn er Euch findet, gebt gut acht! Sein sexueller Appetit speist sich aus okkulten Quellen.” Sie bekreuzigt sich. “Er ist ein Meister der schwarzen Magie.”
Ich bekomme eine Gänsehaut und ziehe den Mantel fester um mich. Schwarze Magie? Dann hatte der alte Künstler also
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