Das Aktmodell
“Mademoiselle fühlt sich anscheinend ziemlich erregt,
n’est-ce pas?”
Er legt seine Hände auf meine, drückt meine Taille, streicht mit seiner Hand über meinen Bauch, tiefer … immer tiefer … weiter nach unten. Zählt er, wie viele Lagen von Rüschen meines Petticoats ihn von meiner Muschi trennen? Ich tue es auf jeden Fall. Okay, ich halte mich zurück, bevor meine Leidenschaft noch mit mir durchgeht. Wer weiß, wer uns beobachtet? Ich müsste nur meine Beine ein wenig spreizen, und er würde seinen Kopf zwischen meine Schenkel bewegen. Und wir wissen, was dann passiert. Kitzeln und Prickeln.
Ich schüttle meinen Kopf. “Nicht wenn uns jeder beobachtet, Monsieur”, beharre ich und schaue mich dabei um. “Wo sind wir?”
“Hier sind die Häuser der
truands
, der Bettler, der Lahmen und Blinden. Sie sind meine Freunde.”
Wie auf Kommando kommt ein kleines zerlumptes Kind auf Paul zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Oder ist es doch ein Erwachsener? Paul drückt dem Bettler eine Münze in die Hand, dann zieht er mich am Arm und drängt mich in eine kleine Gasse. “
Vite
, schnell”, ruft er. “Wir müssen uns beeilen.”
“Wieso?”, frage ich erstaunt. “Was ist los?”
“Es geht das Gerücht, dass Monsieur Renard nach einem Mädchen mit roten Haaren sucht, das einen roten Umhang trägt. Sie werden hier unter den Bettlern nach Euch suchen.
Vien
, kommt …”
“Wohin gehen wir?”, frage ich, nicht zum ersten Mal, wie mir scheint. Ich ignoriere die leise Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, dass ich wahrscheinlich meine Seele verkauft habe, wenn ich tatsächlich jung und schön geworden bin. Die mir erzählt, was ich nicht glauben will. Ich fühle nur den Kuss des Künstlers, der immer noch auf meinen Lippen brennt.
Ich habe keine andere Wahl, als ihm zu folgen, mich in die Torbögen zu drücken und nah an ihm dranzubleiben, als er die gewundene Rue des Halles zur Seine hinunterläuft. Um uns herum gehen die Leute ihren Geschäften nach, kaufen auf dem Markt ein, sitzen in Cafés, gehen in Geschäfte und Büros, oder sie reinigen die Straßen. Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Traum, und eine seltsame Angst macht sich in meinem Magen breit. Eine Angst, die von Minute zu Minute größer wird.
Nach einigen Häuserblocks verlangsamt Paul nun seinen Schritt, und wir spazieren an der Seine entlang, in der Nähe der Pont Neuf. Ich stehe am Ufer unter den Bäumen, die den Sandbänken des Flusses Schatten spenden, und bin verwirrt. In meiner modernen Zeit ist der Fluss voller Plastikbecher, und Enten schwimmen neben gebrauchten Kondomen. Jetzt fließt die Seine gemächlich durch die Stadt, Frachtboote transportieren Getreide den Fluss hinauf und Ladungen mit Wein hinunter. Leuchtend angemalte Kähne, die
Bateaux Lavoir
der Waschfrauen, und Fährschiffe verstopfen den Kanal. Menschen eilen geschäftig umher, und jeder scheint mit seinen alltäglichen Verpflichtungen beschäftigt zu sein.
Eisige Kälte durchdringt mein Cape, meinen Petticoat, meine Haut bis auf die Knochen. Ich zittere und schlinge die Arme um meinen Körper. “Sagt mir, Monsieur: Welches Jahr haben wir?”
“
Alors
, Mademoiselle, es ist das Jahr 1889.”
1889!
Ich beginne zu lachen, ersticke aber beinah daran und flüchte mich in sinnloses Gebrabbel.
Ich lebe und bin im Paris des Jahres 1889, und der Künstler von dem Bild ist ebenfalls lebendig und steht hier neben mir.
Sinnlose Worte, auf die sich Paul Borquet keinen Reim machen kann. Verwirrt holt er seinen Flachmann aus der Jackentasche, und der beißende Geruch von Alkohol steigt mir in die Nase und macht mich schwindlig. Der Künstler reicht die Flasche mit dem starken Getränk an mich weiter, und das intensive Bukett treibt mir Tränen in die Augen. Er reibt den Flaschenkopf mit seinen Händen, als ob er den Geruch vertreiben wollte, dann riecht er selbst daran. Es scheint es zu mögen.
“Trinkt, Mademoiselle.”
“Wieso nicht?”, erwidere ich. Vielleicht hilft es, das Hämmern in meinem Kopf zu vertreiben, damit ich in Ruhe über diese vertrackte Situation nachdenken kann.
Ich hole tief Luft und greife dann nach der Flasche, die Paul mir entgegenhält, nehme einen schnellen Schluck von diesem bitteren, nach Lakritz schmeckenden Getränk und hoffe, dass es meine Knochen wärmt und meinen Kopf klärt. Ich muss meine Rolle in dieser Pariser Seifenoper spielen, auch wenn ich mich frage, wann ich daraus wieder erwachen werde. Ich blinzle
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