Das Aktmodell
aber ich bin größer als die anderen, und der Rock ist nicht lang genug. So kann ich also nur mit den Hüften wackeln, was mich irgendwie amüsiert. Es ist noch nicht lange her, dass ich meine Hüften in Wellen der Leidenschaft bewegt habe, hervorgerufen durch die zärtlichen Berührungen meines Künstlers.
“
Faites attention, mamsells
, schaut mal!”, schreit plötzlich eine Gefangene. “Das Tor öffnet sich.”
“Wer kommt denn da?”, fragt eine andere.
“Niemand, den Ihr kennt, Mademoiselle.”
Die anderen lachen, aber ich hebe neugierig meinen Kopf. Eine Kutsche rüttelt über das holprige Pflaster und fährt durch das Tor. Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich eine Frau, die sich an einem ledernen Riemen an der Decke des Wagens festhält, um nicht hin- und hergeschüttelt zu werden.
Mit einem plötzlichen Ruck hält die Kutsche an, und die Frau steigt aus. Mit einer ungeduldigen Handbewegung streicht sie eine lange, an der Hutkrempe befestigte Straußenfeder aus ihrem makellos geschminkten Gesicht.
Was sie nicht daran hindert, dem Fahrer die Meinung zu sagen. Sie schimpft über seinen schlechten Fahrstil, jammert darüber, dass sich ihr Kleid beim Aussteigen in den Stufen der Kutsche verfangen hat, überprüft dann in dem kleinen Spiegel, den sie an einer goldenen Kette um ihren Hals trägt, ihr weiß gepudertes Gesicht und ignoriert die Wärterin, die ihren Ausweis sehen will.
Ihre extravagante, aber modische Erscheinung zeigt deutlich, aus welchem Milieu sie stammt. Ich stelle mir vor, wie sie rücklings auf dem Bett liegt und in Gedanken ihr Geld zählt, ohne dabei auch nur einen Atemzug ihres gespielten Orgasmus auszulassen. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, aber die vielen Jahre, in denen sie ihr Gesicht mit weißer Schminke malträtiert hat, haben ihre einst runden Wangen in eine harte Maske verwandelt.
Ihre rundliche Figur steckt in einem tief ausgeschnittenen, raschelnden Kleid aus gelbem und pinkfarbenem Taft, die Taille ist so stark zusammengeschnürt, dass sie überhaupt nicht zu ihren restlichen Proportionen passt. Die gigantischen Brüste sind ihr hervorstechendstes Merkmal, obwohl sie wie wassergefüllte Ballons nach unten hängen und ihre Versuche zunichte machen, wie ein junges Mädchen zu wirken. Ohne Zweifel ist die Zeit dieser Sanduhr schon lange abgelaufen.
Und dieser Hut! Da muss ich sogar in meiner armseligen Lage grinsen. Sie scheint eher in ein altes Musical zu passen. Schwarze Federn hängen von einem gelben Taftrand, der schräg auf ihrem Kopf sitzt, und eine dicke schwarze Schleife prangt unter ihrem Doppelkinn. Wenn sie ihren Kopf bewegt, schwingen die Federn hin und her wie zarte Rauchfahnen, die mit dem Wind flirten.
Jede ihrer Bewegungen ist genau einstudiert. Die Art, wie sie vor dem Wagen steht, posiert und dann mit einer Leichtigkeit über den Hof springt, die man ihr nicht zugetraut hätte. Sie ruft dem Kutscher noch zu, dass er auf sie warten soll, holt dann einen schwarz-gelben Spitzenfächer aus ihrem tief ausgeschnittenen Bustier und fächelt sich frische Luft zu, als sie die Gefangenen schnell und mit einem routinierten Blick mustert. Wie eine Hausfrau, die auf dem Markt die toten Hühnchen begutachtet.
“Wer ist das?”, murmle ich, an die Frau neben mir gewandt.
“Madame Chapet”, flüstert sie zurück.
Also
das
ist die stadtbekannte Madame Chapet. Gott steh mir bei.
“Was macht sie hier?”, frage ich.
“Wer weiß? Wahrscheinlich will sie eine ihrer Damen befreien, die hier in St. Lazare ihre Zeit absitzt.”
“Die doch nicht. Die würde keinen Finger krumm machen, um ihrer eigenen Mutter zu helfen. Es sei denn, es steckt ein Profit für sie dahinter.”
“Wieso sagt Ihr das denn?”, frage ich die Frau, die eben gesprochen hat.
“Sie hat viele Jahre hier in St. Lazare Kleider verkauft und den Frauen Geld geliehen. Sie kennt jeden hier im Gefängnis, sogar mit dem Magistrat ist sie vertraut.”
“Dem Magistrat?”, wiederhole ich interessiert. Das hört sich gut an.
“Ja. Er hat sie als Agentin für ein
Maison de Tolerance
, ein lizenziertes Bordell, engagiert.”
“Ein Bordell?” Ich kann es nicht fassen. Paul schickt mich in ein Hurenhaus. Aber wieso sollte mich das erstaunen? Was habe ich von einem Mann erwartet, der so auf Muschis steht?
Du bist noch nicht draußen, Mädchen. Also reiß dich zusammen!
Ich hebe meinen Kopf, um zu beobachten, was passiert, als Madame Chapet auf uns zukommt und sich dabei ein Bonbon
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