Das Aktmodell
hier.” Mit dem Fächer tätschelt sie ihren beachtlichen Busen, und eine leichte Wolke von weißem Puder verflüchtigt sich in der schmutzigen Luft. “Vor Einbruch der Dunkelheit werdet Ihr Euch im Haus in der Rue des Moulins schon behaglich eingerichtet haben …”
“Und was ist mit mir, Madame?”
Ich kann mein Stöhnen nicht unterdrücken. Lillie steht plötzlich hinter der Puffmutter, heftig atmend und mit in die Hüften gestemmten Händen.
“Ah, Lillie de Pontier, hier habt Ihr Euch also versteckt.” Madame Chapet dreht sich um und kneift die Augen zusammen. Ihre Stimme klingt sarkastisch. “Wir haben Eure charmante Art im Haus in der Rue des Moulins sehr vermisst.”
“Ihr habt gesagt, dass
ich
Euer bestes Mädchen bin, Madame”, jammert Lillie und schießt mir einen warnenden Blick zu, dass sie ihren hart erkämpften Ruf nicht so schnell aufgeben wird. “Ihr sagtet, dass niemand so gut darin ist wie ich, die Eier eines Herrn mit meinen eleganten Fingern zu wiegen und dabei mit der Zunge und den Lippen seinen Schaft zu verwöhnen.”
Madame Chapet schaut die Blondine starr an. “Jetzt nicht mehr, Lillie. Ich werde Euch eine Lektion erteilen.”
“Madame?”
“Ich bin schockiert, hört Ihr mich?
Schockiert!
Sich hier einbuchten zu lassen wie eine gewöhnliche Straßenhure. Euretwegen habe ich mehr Gold-Louis verloren, als ich mich erinnern möchte, Mademoiselle. Nicht nur, dass die Gentlemen sich bei mir über Eure Abwesenheit beschwert haben, sondern ich hatte auch noch Monsieur Gromain auf dem Hals, weil Ihr nicht wie verabredet in seinem Studio aufgetaucht seid, um für die Künstler Modell zu stehen.”
“Das ist ganz allein ihre Schuld, Madame”, beharrt Lillie und deutet dabei auf mich. “Sie hat mich auf der Straße angegriffen.”
“Sie hat versucht, mich mit einem Messer zu töten, Madame.”
“Zu schade, dass ich Euch verfehlt habe”, zischt Lillie.
“Genug, Mamselles!
Ich
werde Euer Schicksal entscheiden”, insistiert Madame Chapet. Die Französin zieht ein Papier aus ihrem Busen. Keine Sekunde zu früh.
“
Faites attention.
Aufpassen!”, warnt eine Gefangene. “Die Mutter Oberin.”
Ich sehe die strenge, selbstgerechte und ziemliche füllige Gestalt der Mère L’Abbesse auf uns zukommen. Wie ein religiöser Sturm bauschen sich die Schleier um ihre Füße, und auch unter ihrer Kopfbedeckung braut sich ein Gewitter zusammen. Ein mächtiges Gewitter.
“Überlasst das Reden mir, Mademoiselle”, sagt Madame Chapet und sieht mich dabei an. “Sagt nichts.”
“Was ist jetzt mit mir, Madame?”, insistiert Lillie.
“Wenn Ihr noch ein einziges Wort sagt, Mademoiselle, werdet Ihr niemals von hier wegkommen, das verspreche ich Euch”, antwortet die Madame schroff.
Ich senke meinen Kopf und bete, dass diese Frau mir meine Freiheit verschaffen kann. Ich stelle mir vor, wie ich meine Seele an diese Teufelin in schwarzen Federn verkaufe. Ich würde ihr alles versprechen, um aus St. Lazare fortzukommen. Würde ich ihr sogar meine Hüften entgegenstrecken, damit sie meine Säfte mit ihren roten Lippen auffangen kann? Ein schrecklicher Gedanke kommt mir. Ich ahne, dass Madame Chapet in diesem Augenblick genau die gleiche Idee hat.
“
Bonjour
, Madame Chapet.” Die Mutter Oberin neigt ihren Kopf höflich nach vorn und faltet ihre Hände in den schwarzen Ärmeln ihrer Tunika. Aber ihr Körper zittert. Die Äbtissin ist nervös und hat ihre innere Ruhe verloren, die so typisch ist für Frauen, die ihr Leben der Religion gewidmet haben. Sie steht gerade auf dem Prüfstein, und das gefällt ihr nicht. “Was verschafft uns die Ehre Eurer Anwesenheit in St. Lazare, Madame Chapet?”
“Ich werde meine Nichte heute mit zu mir nach Hause nehmen”, antwortet die Madame, fächelt sich dabei mit den Entlassungspapieren Luft zu und schrammt dabei gefährlich nahe an der Nasenspitze der Nonne vorbei.
“Eure Nichte?”
“Mademoiselle Autumn Maguire.”
Die Äbtissin lässt sich natürlich nicht so leicht hinters Licht führen. “Dieses Mädchen wird hierbleiben müssen, bis ihr Fall entschieden ist.”
“Ich versichere Euch, Mère L’Abbesse, diese Entlassungspapiere sind vom Magistrat persönlich unterzeichnet”, brüstet sich Madame Chapet mit lauter Stimme. Ihr Doppelkinn zittert, und die weißen Perlen auf ihrem Kragen strahlen in heiligem Weiß.
Das Gesicht der Mutter Oberin wird hart. “Lasst mich diese Entlassungspapiere sehen, Madame,
s’il vous
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