Das Aktmodell
plaît.”
Madame Chapet streicht die Federn aus ihrem Gesicht, fächelt sich den Schweiß aus der Stirn und richtet ihr Dekolleté wieder her, bevor sie die Papiere der Äbtissin reicht.
Ich richte meine Augen auf die Nonne. Ich kenne diesen Blick … die Augen wandern von links nach rechts, die Oberlippe leicht nach vorn geschoben und ein leichtes Zucken um die Mundwinkel. Ich habe sie beobachtet, wie sie durch die Gänge marschiert ist, wenn jemand unaufgefordert gesprochen hat, dabei jedes Mädchen mit ihrem bohrenden Blick musternd, um die Schuldige herauszufinden … die jedoch gut daran tat, still zu bleiben, da immer irgendjemand Schwächeres unter dem Blick der Äbtissin zusammenbrach, die schreckliche Tat gestand und um Gnade bettelte. Die gleiche Angst stellte sich jetzt wieder bei mir ein. Nur hundertmal schlimmer.
“
Bon
, Madame Chapet”, sagt die Mutter Oberin nun. Ihre innere Ruhe ist wieder eingekehrt, denn sie weiß, dass ihr die Hände gebunden sind. “Eure Nichte darf natürlich St. Lazare mit Euch verlassen. Für diesmal.” Sie faltet ihre Hände zum Gebet. “Möge Gott Gnade walten lassen mit Euer
beider
Seelen.”
Ich ignoriere die Warnung in der Stimme der Nonne.
Ich bin frei.
Widerwillig löst die Wärterin die Fesseln und befreit mich von dem hölzernen Gerüst. Dabei berührt sie beiläufig meine Brüste mit der Hand, kneift mich wie eine Schlange, die ihre Giftzähne in das Fleisch ihres Opfers sinken lässt. Aber ich stoße sie mit meiner Schulter von mir. Sie stöhnt, aber belässt es dabei.
Ich strecke meine Arme nach oben über den Kopf, aber ich habe kein Gefühl mehr in meinem Oberkörper, meine Schultern sind steif, und mein Hals fühlt sich verkrampft an. Aber das ist egal.
Das Gefühl der Freiheit ist unbeschreiblich intensiv, als ob diese Emotion im Moment der einzige Grund ist, zu leben.
Ich versuche zu laufen, aber auf dem halben Weg zum Tor breche ich zusammen, greife hilflos in die Luft und falle dann auf die kalten, schmutzigen Pflastersteine. Ich versuche aufzustehen, krieche auf allen vieren, und schließlich schaffe ich es, doch wieder auf die Füße zu kommen und in die Freiheit zu gehen.
Ich weiß, dass im hellen Sonnenlicht hinter den schweren Gefängnistoren die Stadt Paris auf mich wartet. Sie lädt mich ein, ihre Geheimnisse zu entdecken, zieht mich in ihren mystischen Bann und enthüllt mir Geheimnisse, die niemand aus meiner Zeit jemals kennenlernen wird.
Ich öffne das schwere Tor.
Paul Borquet wartet sicherlich auch auf mich. Oder etwa nicht?
Madame Chapet zieht an der engen, dreireihigen Perlenkette, die ihr Doppelkinn verstecken soll, nimmt dann mit zwei Fingern den letzten Bonbon aus der pinkfarbenen Samtdose und wirft sie den Fellbündeln Louis und Pompie hin, die durch die Kutsche springen. Die beiden Hunde kämpfen sofort um diese Süßigkeit.
“
Zut alors, mes petits enfants
, kommt, kommt, nicht streiten. Maman wird euch später mehr Süßigkeiten geben.”
Angewidert von den beiden kleinen Hunden, die an meinen Fesseln knabbern, schaue ich aus dem Seitenfenster.
“Wohin bringt Ihr mich, Madame?”
“In das Haus in der Rue des Moulins … Louis, Pompie, hört
sofort
auf!” Die beiden kleinen Terrier ignorieren ihr Frauchen und knurren sich weiterhin böse an.
“Ich habe Euch bereits gesagt, Madame Chapet, dass ich keine Prostituierte bin.” Ich lächle dünn und starte einen erneuten Versuch, meinen Fall zu erklären. “Ich weiß nicht, was Monsieur Borquet Euch erzählt hat, aber …”
“Monsieur Borquet ist ein junger Mann, der in Euch verliebt ist, aber leider ist er auch ein brotloser Künstler. Ihr werdet ohne ihn glücklicher sein.”
Ich unterdrücke den Wunsch, ihr die Meinung zu geigen und frage stattdessen ganz ruhig: “Was wollt Ihr damit sagen, Madame?”
“Ihr müsst ihn vergessen. Ich habe Pläne mit Euch. Große Pläne. Ich kenne einige sehr einflussreiche Herren, darunter Lord Bingham, den fünfzehnten Duke of Malmont, der ein Vermögen dafür zahlen wird, die
boîte d’amourette
, das kostbare Schatzkästchen einer so jungen und schönen Frau wie Euch, zum ersten Mal zu öffnen.”
Jung und schön. Verdammt, das ist mehr ein Fluch als alles andere. Und eine Entschuldigung für die alte Ziege, meine Muschi zu verkaufen. Ich lächle. Was würde Madame sagen, wenn sie die Wahrheit über mich wüsste.
“Ich werde es dem Duke nicht erlauben, mich anzufassen”, sage ich ihr und zittere dabei.
“Aber
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