Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
wenige Schüler interessierte der Vortrag über die Bamberger Vorzeit wirklich, die meisten freuten sich schon auf das alljährliche Eis am »Gablmo«, dem traditionellen Treffpunkt am Neptunbrunnen, zum Abschluss des Tages.
Er schaute sich um. Clemens hatte ihn vorhin gebeten, kurz auf Peter aufzupassen, und war dann verschwunden. Dieser Tag hatte für das persönliche Verhältnis der beiden mehr gebracht als vier Jahre Ottonianum. Erst jetzt hatte er begriffen, was Clemens Martin wirklich für ein Mensch war. Er war nicht der versnobte Streber, für den er ihn immer gehalten hatte. Nein, er hatte in nur wenigen Stunden einen äußerst mitfühlenden Clemens erlebt, der sich wegen eines schwächeren Kameraden mit der Obrigkeit des Ottonianums angelegt hatte, und das imponierte Max Schillers rebellischer Natur gewaltig. Impulsiv und spontan, wie er war, fühlte er sich nun beiden gegenüber verpflichtet und wollte sie unterstützen, wo es nur ging. Aber so richtig ließen sie ihn nicht an sich ran. Mozart hatte das Gefühl, als wollten sie die anderen nicht in ihre schreckliche Welt mit hineinlassen.
Sein Blick flog suchend durch die Kirche. Wo war Clemens nur hin? Bald war der Klassenlehrer mit seinem Vortrag zu Ende, und alle mussten wieder zum Bus. Viel Zeit hatte er nicht mehr.
Während im Hintergrund eine männliche Stimme Dinge erklärte, die ihm schon längst bekannt waren, machte er sich daran, das Buch in das speckige Papier einzuwickeln, sodass von dem hellen Ledereinband nichts mehr zu sehen war.
Hastig knotete er das kleine Paket kreuzförmig mit einer Schnur zusammen, die er in weiser Vorahnung mitgenommen hatte.
Er blickte sich vorsichtig um.
Die anderen waren schon ein ganzes Stück vorausgegangen und konnten ihn nicht mehr sehen. Ihm blutete das Herz bei dem Gedanken, sein Buch aus der Hand zu geben, aber es musste sein. Schließlich war es seine Lebensversicherung. Dann begann er zu klettern …
*
Nikolai parkte seinen Wagen vor seinem Versteck im ehemaligen Katharinenspital. Als die schwere Tür hinter ihm zufiel, ging er zuerst ins Bad, um sich zu verarzten. Nachdem er sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, betrachtete er skeptisch die klaffende Wunde unter seiner linken Augenbraue. Dieser verfluchte Teppichhändler hatte ihn doch tatsächlich im falschen Moment erwischt. Immerhin war der jetzt Geschichte, und das geronnene Blut, das noch an Nikolai klebte, war das Letzte, was diese Welt von ihm vererbt bekommen hatte. Er ging zu seiner Tasche, die auf dem Bett stand, und entnahm dem Bodenfach ein kleines metallenes Kästchen, in dem sich Nadel, Faden und eine kleine Tube mit Desinfektionsmittel befanden. Wieder im Bad, begann er den medizinischen, rosafarbenen Faden durch das Öhr zu fädeln. Vier Stiche müssten reichen. Er griff nach der Flasche mit dem teuren Wodka, die er vorsichtshalber auf den Toilettendeckel gestellt hatte, und nahm einen langen Zug. Das würde jetzt unangenehm werden. Er lächelte grimmig dem Gesicht im Spiegel zu. Sein Lächeln wurde zum lauten Lachen, und er nahm einen weiteren Schluck. Dann setzte er die Nadel an den oberen, äußeren Wundrand und drückte sie durch das Fleisch.
*
Ihr Lehrer hatte seine Erklärungen beendet und rief seine Schüler, sich zu sammeln. Mozart blickte sich hektisch um. Hinter einer der großen Säulen, die das Gewölbe des Gotteshauses stützten, sah er Clemens endlich hervorkommen und sich durch die hölzernen Kirchenbänke schleichen. Verschwitzt und außer Atem stieß er gerade noch rechtzeitig zum Rest der Klasse hinzu. Mozart schaute ihn kopfschüttelnd an.
»Sag mal, was hast du eigentlich gemacht?«, fragte er ihn. »Immer wenn wir in alten Kirchen Predigten über Architekturhistorie anhören müssen, machst du dich vom Acker. Tust du heimlich beten, oder was?« Das erste Mal an diesem Tag huschte so etwas wie ein Lächeln über Clemens’ Gesicht.
»Nein«, antwortete er leise. »Ich habe nur Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Vielleicht erklär ich’s dir später.« Mit dieser mysteriösen Andeutung wandte er sich wieder seinem Schützling zu, der es ziemlich eilig hatte, aus der Kirche zu verschwinden.
Im Bus sprachen sie nicht mehr miteinander, doch selbst Peter schien sich jetzt auf das Ende des Ausflugs und das obligatorische Eis zu freuen.
Vielleicht nahm dieser unselige Tag doch noch ein friedliches Ende, hoffte Mozart und sah den Schleckereien am »Gablmo« ebenfalls optimistisch
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