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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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auf die Spitze des
Monuments, wo der Präsident und ich standen, wohl gut zu erkennen als
Silhouetten, die sich gegen den Himmel abhoben – die Herrscher über die
Pantisokratie.
    Moon ließ seine Schwester stehen und lief auf uns
zu – erpicht, wie es schien, auf eine weitere Konfrontation.
    Minuten später stürzte er aus dem
Treppenhaus ins Freie, keuchend und schnaufend und außer Atem. Mit
zornfunkelnden Augen starrte er mir entgegen.
    »Edward!« Ich hob grüßend die Hand. »Sie kommen
gerade rechtzeitig.« Der Präsident und ich blickten über die Brüstung. »Die
Kavallerie scheint einzutreffen.«
    Zu unseren Füßen hatten die Geldraffer Unterstützung
bekommen: Einige Dutzend Schutzmänner strömten ins Börsenviertel, angeführt vom
furchteinflößenden Detektivinspektor Merryweather und begleitet von einer
Handvoll falscher Chinesen aus dem Direktorium.
    Nun, wenn ich sage »strömten«, dann ist dieser Ausdruck
nicht ganz passend.
Meine
Männer – die Truppen von
Love,
Love, Love und Love
 –, also
sie
strömten tatsächlich auf die
Straßen. Sie waren wie eine große Flut, die sich nach langem Warten über die
Stadt ergoss, wie die Wassermassen eines geborstenen Damms, die nach Jahren
elenden und unnatürlichen Eingeschlossenseins alles unter sich begruben. Die
Polizeikräfte hingegen, die Männer des Direktoriums, »strömten« nicht, sondern
tröpfelten eher ins Kampfgeschehen, sickerten über das Kopfsteinpflaster wie Flüssigkeit
aus einem undichten Rohr.
    Und wieder die anklagende Stimme von Moon, so
selbstgerecht wie eh und je. »Diese Männer haben doch keine Chance!«
    »Meiner Schätzung nach sind sie eins zu zehn in
der Minderheit«, sagte ich nachsichtig. »Sie haben recht. Sie werden alle
hingemetzelt werden.«
    Unter uns verschwand soeben ein blau uniformierter
Schutzmann unter einer kreischenden Woge von
Love
. Seine Schreie
drangen bis zu uns herauf, in eine Höhe von zweihundertundzwei Fuß. Moons
Reaktion auf den Zwischenfall war natürlich ermüdend pathetisch. »Sein Blut
klebt an Ihren Händen!«
    »Ganz im Gegenteil. Sie waren es, der mich
verraten hat!«
    »Ich kann nicht dastehen und zusehen, wie Sie
solche Greuel über die Stadt bringen«, rief er.
    »Das ist ein natürlicher Vorgang« widersprach ich.
»Steht nicht geschrieben, dass die Schafe von den Böcken getrennt werden
müssen? Die Mühseligen und Beladenen, die Verschmähten und Vergessenen –
wir waren zu lange unterdrückt. Und dies ist unsere Rache.«
    »Warum muss es auf diese Weise geschehen?«
    »In Wirbeln wild der Todesbrand«, murmelte hinter
uns der alte Mann, »tanzt durch das nächtlich’ Glüh’n. Und Wasser flammt wie
Hexenöl in Blau und Weiß und Grün.«
    »Erkennen Sie es?«, fragte ich Moon – ein
wenig in der Art eines stolzen Vaters. »Es stammt aus seinem eigenen Werk.«
    Aber Moon wollte sich mit mir anlegen. »Glauben
Sie denn, dass ihm das da unten gefällt? Glauben Sie, es schmeichelt ihm, was
Sie getan haben?«
    »Fragen Sie ihn doch«, sagte ich nur.
    Moon zog den Präsidenten von der Brüstung weg,
zerrte ihn grob vor mich hin und drückte seine Nase auf meine. Ich zuckte vor
dem üblen, metallischen Geruch aus dem Mund des Alten zurück.
    »Dieses
Ding
ist nicht lebendig«, stellte
Moon fest. »Es ist ein Leichnam, in Bewegung gesetzt von Ihrer perversen
Physik!«
    »Gegenwärtig ist er noch kaum mehr als ein Kind!
Er ist verwirrt!«
    Moon zwang den alten Mann, hinabzublicken auf das
Blutbad, und zischte ihm gehässig ins Ohr: »Verraten Sie mir, billigen Sie, was
da unten vorgeht? Betrachten Sie dies als angemessene Huldigung?«
    Der Träumer starrte bestürzt und mit glasigem
Blick hinunter auf die Straße. »Da liegen Männer, stolz und stark«, zitierte
er, »im Tode jämmerlich. Und schleimig’ Dinge, tausendfach, leben fort –
wie ich.«
    Moon ließ nicht locker. »Und all dies findet nur
Ihnen zu Ehren statt.«
    Zum ersten Mal schien der Alte uns tatsächlich
wahrzunehmen und sich darüber klar zu werden, wo er sich befand. Es war, als
wäre er endlich aufgewacht. »Für mich?«, murmelte er. »Für mich?«
    Mit Tränen in den Augen warf ich mich ihm zu
Füßen. »Ja!«, schluchzte ich. »All dies für Sie! Für die Pantisokratie!«
    »Überlegen Sie sorgfältig«, warf Moon ein. »Alles,
was sich uns dort unten offenbart – diese ganze Qual, dieses Leid, das
alles wird in Ihrem Namen zugefügt!«
    Der Präsident schüttelte den Kopf. »Nein, nein!«,
murmelte er.

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