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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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»Nein, nein, nein! Doch nicht so!«
    »Bitte, Sir!«, drängte Moon. »Sie haben es in der
Hand! Gebieten Sie der Raserei Einhalt!«
    Der Alte schien vor unseren Augen an Statur
zuzulegen, er wurde mit einem Mal größer und breiter, so als wäre er auf ein
unsichtbares Streckbett gebunden.
    »Herr Präsident!«, rief ich.
    Er sah mich an wie einen Fremden. »Ich bin nicht
Ihr Präsident!« Er war aufgehetzt von Moons Worten, und sein Ärger schien ihn
neu zu beleben. »Nein!«, schrie er (er schrie tatsächlich – keine Spur
mehr von dem greisenhaften Gemurmel, das er bisher zustandegebracht hatte).
»Das ist nicht meine Schuld!«
    »Doch, das ist es«, flüsterte Moon, wie Claudius,
der Gift in die Ohren eines einflussreichen Mannes träufelte. »Die Schuld daran
wird Ihnen zugeschrieben werden!«
    Und da geschah etwas wirklich Außergewöhnliches.
(Im Hinblick darauf, dass dieser Tag bislang keineswegs routinemäßig verlaufen
war, werden Sie verstehen, dass ich dieses Wort nicht leichtfertig verwende.)
    Der Präsident brüllte wutentbrannt auf, und mit
wachsendem Zorn begann mit seinem Körper eine Veränderung vor sich zu gehen,
eine neuerliche Verwandlung: Grünliche Streifen erschienen auf Gesicht und
Händen, so als wären plötzlich alle seine Adern sichtbar geworden und als würde
nicht das gesunde Tiefrot des Lebens darin pulsieren, sondern etwas
Scheußliches, Krankes, Sterbendes. Ein phosphoreszierendes Leuchten ging von
seiner Gestalt aus.
    Edward Moon starrte mich entsetzt an. »Was haben
Sie ihm angetan?«
    Ich gebe zu, ich war selbst überrascht von dieser
Entwicklung. Die fruchtwasserartige Flüssigkeit, die den alten Mann am Leben
erhalten hatte, musste einige Eigenschaften aufweisen, die ich nicht
vorhergesehen hatte. Heute bin ich nicht mehr in der Lage, mir ihre genaue
Zusammensetzung ins Gedächtnis zu rufen – und vielleicht ist das auch
besser so, denn ich würde mir nicht wünschen, dass irgendjemand dieses
scheußliche Experiment wiederholen könnte.
    Damals, als ich den alten Mann aus dem Grab holte,
war seine linke Hand stark beschädigt gewesen, und ich glaubte, keine andere
Wahl zu haben, als sie zu amputieren und an ihrer Stelle eine Hand anzunähen,
die einst einem seiner engsten Freunde und Kollegen gehört hatte – Robert
Southey.
    Doch nunmehr merkte ich, dass meine Nähte sich
lösten, und dass die Hand begonnen hatte, wie ein Kinderfäustling vom
Handgelenk des Alten zu baumeln. Einer nach dem anderen sprangen die Fäden auf,
und ich sah an der Stelle, wo sich eigentlich Blut und Knorpel befinden
sollten, nichts als eine schleimige Substanz austreten.
    Etwa zu diesem Zeitpunkt fing ich an zu begreifen,
dass die Dinge nicht mehr nach Plan abliefen.
    Da das Toben des alten Mannes gleichermaßen von
Schmerz wie von Zorn genährt schien, wuchs meine Sorge, dass sich an seiner
Person noch weitere Fäden gelöst hatten. Offenbar hatte er genug vom Anblick
des Massakers dort unten; er trat von der Brüstung weg und torkelte mit wild
kreisenden Armen auf Moon zu. Der Detektiv war so töricht, sich ihm in den Weg
stellen zu wollen, was etwa so wirkungsvoll war wie der Versuch, eine fahrende
Lokomotive mit der Hand aufzuhalten.
    »Warten Sie!«, sagte er. »Bitte!«
    Mit einem einzigen Hieb seiner gesunden rechten
Hand stieß der Präsident Moon zur Seite und legte damit weitaus mehr Kraft an
den Tag, als ich für möglich gehalten hätte. Doch wie ein angeschlagener Boxer,
der entschlossen ist, bis zum Ende durchzuhalten, rappelte Moon sich hoch, nur
um neuerlich zu Boden geschickt zu werden, wobei ein grünliches Leuchten über
die Hand des Alten huschte. Diesmal stürzte der Detektiv zu Boden und blieb
reglos liegen.
    Die Flüssigkeit hatte dem Träumer offensichtlich
mehr beschert als nur die Erhaltung des nackten Lebens, und da betrachtete ich
es als wahres Glück, dass es ein vergleichsweise sanftmütiger Poet war, den ich
erfolgreich wiedererweckt hatte. Mit Schaudern denke ich immer noch daran,
welche Folgen eine solche unheimliche Macht gehabt hätte, wäre meine Wahl auf,
sagen wir, Lord Byron oder den verrückten Blake oder den Schwindler Chatterton
gefallen.
    Moon lag auf dem Boden, ohnmächtig oder tot, und
der alte Mann wankte davon. Er verschwand im Inneren des Monuments auf dem Weg
nach unten, erfüllt von furchteinflößender Kraft und Entschlossenheit. Ich sah
keine andere Möglichkeit, als ihm zu folgen. Moon, den ich nun für erledigt
hielt, ließ ich

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