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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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innere
Kraft für Bußfertigkeit und damit Erlösung fehlt. Wenn die Stadt auf den
rechten Weg geführt werden sollte, so blieb mir keine andere Wahl, als sie dem
Schwert zu überlassen.
    Der Arbeitstag hatte kaum begonnen, als er schon
abrupt und blutig beendet wurde. Die Bankiers, die Makler und Kaufleute,
Händler, Buchhalter und Geldverleiher – alle, alle wurden brüllend und
kreischend aus ihren Kontoren gezerrt. Einige wurden verschont, die meisten
jedoch hingerichtet. Ich würde Ihnen herzlich gern versichern, dass ihr Tod
rasch und schmerzlos und ihr Ende von einem gewissen Maß an Würde begleitet
war, doch um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass es sich so verhalten hat. Zu
unseren Füßen war eine Orgie der Grausamkeit im Gange, eine Raserei aus
blutiger Vergeltung für viele Menschenalter der Ungerechtigkeit, als die
entfesselten Aktionäre von
Love
 – meine Habenichtse, meine
Armenviertel-Bacchanten – endlich ihre Straßen zurückeroberten.
    Was die Bankiers und dergleichen angeht: Einige
dieser Pechvögel wurden zu Tode geprügelt, andere mit Äxten, Piken und
Schaufeln erschlagen. Wieder andere wurden im Fluss ertränkt, und ich selbst
sah einen ersticken, als ihm Mitglieder meiner Herde Säckchen um pralles
Säckchen voller Silbermünzen in den Mund stopften.
    Selbstredend erwarte ich Einwendungen Ihrerseits.
Aber weshalb sollte man mit jenen Menschen Mitleid zeigen, wo diese doch keine
Spur davon für ihre unzähligen Opfer übrig gehabt hatten? Sie hatten die Stadt
lange genug für ihre Interessen missbraucht; ihre Zeit war vorbei. Für uns
hingegen war eine neue Ära angebrochen, und im Einklang dazu schien London
seine Topographie umzugestalten.
    Die großen Tempel der Habgier und des Geizes
wurden angesteckt; die Banken bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ebenso
wie die vornehmen Restaurants und Bars, die teuren Herrenfriseure und
Nobelausstatter – alle wurden sie durchtränkt vom reinigenden Feuer. Die
Goldreserven der Bank von England wurden hervorgeschleppt, und meine Leute
schleuderten den Inhalt der Tresore achtlos in die schwarzen Wasser der Themse
oder kippten ihn hinab in die feuchten Tiefen der Kanäle. Eine führende
Persönlichkeit der Stadt wurde mit einem gleißenden Barren zu Tode geprügelt.
Die Luft war erfüllt vom Gestank brennender Geldscheine.
    Die Stimme des alten Mannes war heiser und
schwach, und er gab gurgelnde Geräusche von sich, als würde er unter Wasser
sprechen. Dennoch gelang es ihm, ein paar Zeilen aus einem Gedicht zu
murmeln – nicht aus einem seiner eigenen, und doch nicht ohne Bezug zu den
Vorgängen. »Der König im Gewölbe saß und zählte die Dukaten, die Königin war im
Salon und schmauste Brot und Braten.«
    Ich drückte seine Hand, er drückte die meine
(»Ned«, murmelte er dabei), und unter uns nahm der Schrecken seinen Lauf.
    Moon kämpfte sich durch die Menge,
wehrte Angriffe der Aufständischen ab und stieg, wo es sein musste, über die
blutigen Leichen Gefallener hinweg. Kein einziges Mal hielt er an, um zu
helfen, sondern eilte weiter, immerzu auf der Suche nach einer einzigen Person
in dem Hexenkessel. »Charlotte!«, schrie er. »Charlotte!«
    Und schließlich fand er sie. Sittsam und ernst
stand sie daneben, als dem Inhaber einer großen Börsenmaklerfirma die Arme
ausgerissen wurden. Moon überließ den Mann seinem Schicksal und packte seine
Schwester. »Charlotte! Was tust du bloß?«
    Sie bedachte ihn mit ihrem feenhaftesten Lächeln.
»Hallo, Edward!« Nach kurzem Innehalten fuhr sie fort: »Du hättest uns nicht belügen
sollen, weißt du?«
    »Was ist nur mit dir geschehen?«
    »Das verstehst du nicht.«
    »Da hast du ganz recht, ich verstehe es wirklich
nicht.«
    Hinter ihnen gab der Börsenmakler ein letztes
schwaches Röcheln von sich, bevor er in einer tiefroten, immer größer werdenden
Blutlache sein Leben aushauchte. Charlotte blickte ganz verzückt auf das Bild.
»Dies ist der Beginn von etwas Wunderbarem. Einer neuen Ära. Einer zweiten
Chance.«
    Moon zeigte auf den Toten. »Für ihn gibt es keine
zweite Chance.«
    »Aber für dich«, versicherte ihm Charlotte. »Du
kannst noch errettet werden!«
    Angeekelt stieß Moon sie zur Seite. »Wo ist der
Schlafwandler?«
    »Unten. Wir haben ihn dort festgebunden.«
    »Du weißt, dass ich ihn befreien werde«, sagte
Moon verächtlich.
    Sie hob die Schultern. »Das kannst du gern
versuchen. Es ist nicht mehr von Bedeutung.«
    »Wo ist Tan?«
    Charlotte zeigte nach oben

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