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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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hellwach.
    Sie warteten die Dämmerung ab, ehe sie
das Theater verließen; sie schlichen vorbei an einer missbilligenden Mrs
Grossmith und einem angetrunkenen Speight, der sich bereits für die Nacht
niederließ. Moon lüftete den Hut zum Gruße, was der Mann mit versoffenem Lallen
quittierte.
    Nach einem Fußweg von wenigen Minuten wartete eine
Kutsche. Die beiden kletterten schweigend hinein und nahmen Platz, ohne das
Wort an den Kutscher zu richten, der ganz in Schwarz gehüllt war und das
Gesicht hinter einem dicken Schal verbarg. Es handelte sich um einen Kollegen
des Inspektors, der für seinen Takt und seine Verschwiegenheit bekannt war.
    »Heute gehen wir auf die Jagd«, erklärte Moon dem
Schlafwandler, während sich die Kutsche in Bewegung setzte, »auf die Jagd nach
Informationen. Nichts Bestimmtes. Aber ich möchte nicht, dass sich dein
Benehmen von letztem Mal wiederholt.«
    Sein Begleiter nickte verständig.
    »Aber wenn die Sache unerfreulich wird – was
ich mir durchaus vorstellen könnte –, dann kann ich mich hoffentlich auf
deine … Fähigkeiten verlassen, nicht wahr?«
    Wieder ein Nicken.
    »Danke. Es gibt niemanden, den ich auf diesen
unseren kleinen Streifzügen lieber an meiner Seite hätte als dich.«
    Der Hüne lächelte scheu vor sich hin, während die
Kutsche durch den Abend ratterte.
    Weniger als eine halbe Stunde später langten sie
an ihrem Ziel an, einer trostlosen Gasse tief im Herzen von Rotherhithe. Es war
eine üble Gegend: ein Wust verdreckter Mietskasernen, Obdachlosenasyle und
baufälliger Elendsquartiere. Die Straßen waren durchzogen vom Gestank der
Verwahrlosung, und die Menschen darin hatten etwas beinahe Tierhaftes an sich;
ihre Gesichter waren schmutziggrau und schorfig. Dieser Teil der Stadt schien
beinahe zu schreien nach Zivilisierung, nach Barmherzigkeit und – ja, ich
zögere nicht, das Wort zu verwenden, wie altmodisch Sie es auch immer finden
mögen – nach
Liebe
.
    Auf halbem Wege einer langen Straße – unter
baufälligen Häusern, die sich wie betrunken gegeneinander lehnten, zwischen
einer Schenke und einer Herberge, wo die Ärmsten der Armen für das Recht,
zusammengesackt an Seilwerk gelehnt schlafen zu dürfen, zwei Pence
bezahlten – stand ein Etablissement, das Edward Moon gut bekannt war. Ein
alter ostindischer Matrose, ein sogenannter »Laskar«, stand stockbesoffen Wache
am Eingang. Moon nickte ihm so höflich zu, als wäre er Türsteher des Ritz oder
irgendeines vornehmen Klubs, dessen Mitglied man üblicherweise fürs ganze Leben
wird. Der Laskar musterte die beiden Ankömmlinge mit triefäugigem Misstrauen,
ließ sie aber wortlos passieren – offenbar zu betrunken, um Einwände zu
erheben.
    Sie stiegen eine gewundene, ausgetretene Treppe
hinab in den Hauptteil des Gebäudes, sein giftiges Herz, einen riesigen Keller,
in dem die Luft nach Sünde stank: die berüchtigte Opiumhöhle von Fodina
Yiangou.
    Durch das ganze Gewölbe zogen sich Wolken
fahlgelben Rauches, und auf dem Boden wälzten sich menschliche Körper –
verkrümmt, hässlich und krankhaft. Ein junger Mann saß da mit hängender
Unterlippe und weitaufgerissenen Augen, deren Pupillen auf die Größe von Stecknadeln
geschrumpft waren, und irrte durch irgendwelche Himmel oder Höllen seiner
eigenen Schöpfung – ein Bild völligen Verfalls. Zusammengekauert neben ihm
hockte ein verlotterter Soldat, der immer noch die nach Jahren der
Vernachlässigung schmutzige und zerrissene Uniform seines Regiments trug. Die
Hände der Männer wirkten wie Klauen, die krampfhaft ihre Opiumpfeifen
umklammerten – jenes Füllhorn, das Qual und Ekstase zugleich über sie
ausschüttete. Schläfrig vom Mohn lehnten sie schlaff und teilnahmslos auf ihrem
jeweiligen Lager, die bleichen, teigigen Gesichter vom Schein der Öllampen
erhellt – hilflose Marionetten, denen der Puppenspieler die Fäden gekappt
hat. Moon und der Schlafwandler bahnten sich ihren Weg zwischen ihnen hindurch,
und jeder der Männer erschauerte heftig, als die beiden vorbeigingen.
    »Nichtsnutzige Träumer«, murmelte der Magier. Sein
Begleiter warf ihm einen seltsamen Blick zu, aber noch ehe er etwas auf seine
Tafel schreiben konnte, tauchte ein krummrückiger Orientale vor ihnen auf. Die
Haut seines Gesichtes war rissig und wund und sah aus wie von einer ekelhaften
Krankheit entstellt.
    »Mister Moon?« Seine Stimme klang heimtückisch,
verschlagen, und er sprach mit einem starken Akzent.
    Der Magier verbeugte sich

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