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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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bereits eilig seinen Weg fort.
Der hässliche kleine Mann sah davon ab, ihm zu folgen, drehte sich um und
ging – betrübter und noch ernster als zuvor – langsam ins Haus
zurück.
    Wie von einem starken inneren Drang
getrieben, lief Moon erneut zum Schauplatz des Mordes.
    Ungeachtet der späten Stunde waren die Straßen mit
dem gleichen menschlichen Abschaum erfüllt, dem auch Cyril Honeyman bei seinem
letzten Besuch begegnet war. Bei Moons Näherkommen zogen sich die Geschöpfe der
Nacht jedoch rasch zurück; möglicherweise spürten sie, dass mit ihm nicht zu
spaßen war. Der Magier bemerkte sie kaum, während er sich wie ein Gespenst
durch die Gassen und Gässchen bewegte und geradewegs auf den Turm zusteuerte.
    Er konnte die Last der Vergangenheit spüren, die
sich auf ihn legte – die Wasser der Geschichte, die über seinem Kopf
zusammenschlugen. Plötzlich fiel ihm der Begriff des
Genius loci
ein,
diese wirklichkeitsfremde Überzeugung, dass der Ort selbst erheblichen Einfluss
hat auf die Individuen, die ihn durchschreiten. Falls der Geist dieser Gegend
sich fühlbar auf ihre Bewohner auswirkte, dann war sein Einfluss jedenfalls ein
schlechter. Die Beschaffenheit des Viertels war von eindeutig übler Natur; sie
schien alles, was in der Stadt am verabscheuenswertesten, am scheußlichsten und
sündhaftesten war, an ihren Busen zu pressen. Dieser Ort, man spürte es,
hungerte. Er gierte nach Opfern.
    Moon langte vor dem schweigenden Koloss des Turmes
an, kämpfte sich bis nach oben und fand alles verlassen vor. Es war zu
erkennen, dass kein Landstreicher sich den Raum als vorübergehende Unterkunft
angeeignet hatte – in einer Gegend, die heimgesucht war von Armut der
bittersten und ausweglosesten Art hätte dieser Umstand Moon überraschen müssen,
doch das tat er seltsamerweise nicht.
    Der Raum an der Spitze des Turmes war jetzt kahl,
und die verdorbenen Speisen hatte man weggeschafft. Moon dachte erneut über die
Besonderheiten dieses unangenehmen Falles nach – über den verdächtigen
Mangel an verwertbaren Spuren und an dieses aufreizende Gefühl, dass etwas
Größeres dort lauerte, wo er es gerade nicht mehr erfassen konnte. Er sank auf
den kalten Fußboden, kramte in seiner Jackentasche nach Zigarette und Feuerzeug
und rauchte mit untergeschlagenen Beinen und geschlossenen Augen wie ein
moderner Buddha, der geduldig auf etwas wartete, von dem er nicht wusste, was
es war.
    Die vielen Jahre im Dienste ihres Herrn
hatten Mrs Grossmith gegen dessen Marotten abgehärtet; ihre praktische
Veranlagung hatte sie immun gemacht gegen seine Launen und Eigentümlichkeiten.
Demzufolge war ihre nahezu hysterische Reaktion auf Moons Heimkehr kein
geringer Anlass zur Besorgnis.
    »Mister Moon!«, heulte sie auf. »Wo sind Sie denn
gewesen?«
    »Das geht Sie nichts an.«
    »Kein Grund, grob zu werden!«, gab sie bissig
zurück.
    Eine lange Pause folgte. Dann seufzte Moon. »Ich
bitte um Entschuldigung. Was gibt es? Was ist los?«
    »Ein Mann war hier und hat auf Sie gewartet. Die
ganze Nacht!«
    »Wer?«
    »Der hat mir richtiggehend Gänsehaut gemacht,
ehrlich. Ich war völlig durcheinander. Ein kleiner Mann. Klein und ganz weiß.«
    »Ein Albino?«
    Mrs Grossmith legte das ganze Gesicht in Falten;
sie dachte scharf nach. »Ich glaube, das ist das richtige Wort.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Bloß, dass er Sie sehen müsse und dass es sehr
wichtig sei.« Sie griff in ihre Schürzentasche und hielt Moon eine weiße
rechteckige Karte hin. »Die hat er für Sie hiergelassen.«
    Ihr Dienstherr warf einen Blick darauf. »Sie ist
ja blank!«
    »Ich weiß. Ich fragte ihn, ob das ein Versehen
sei, aber er sagte nein und dass Sie schon verstehen würden. Ihnen kann ich’s
ja verraten: Ich fürchtete mich ein wenig. Was für ein Mensch lässt so eine
Visitenkarte zurück?«
    Moon warf die Karte ins Küchenfeuer, wo sie von
den Flammen verzehrt wurde. Während sie brannte, kam er zu einem Entschluss.
    Der Schlafwandler schob sich durch die Tür, seine
monolithische Gestalt in einen purpurroten Schlafrock gewickelt. Moon wünschte
ihm einen guten Morgen; ein Gähnen war die Antwort.
    »Ich sage die Vorstellung heute Abend ab. Es ist
höchste Zeit, dass wir in die Offensive gehen.«
    Der Schlafwandler streckte sich und gähnte wieder.
Er kritzelte eine Botschaft auf seine Tafel:
    WOHIN
    Moons Antwort vertrieb dem
Schlafwandler auf unsanfte Weise seine triefäugige Apathie, und er fühlte sich
plötzlich unliebsam

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