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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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wenn irgendjemand diesen Fall knacken kann,
dann ganz bestimmt Sie.«
    »Vielen Dank, Madam.«
    »Ich muss sagen, Sie haben sich von dieser grässlichen
Sache in Clapham wunderbar gut erholt. Eine ganze Reihe von Männern in Ihrer
Position hätte danach aufgegeben. Das Handtuch geworfen, wie man so sagt.«
    Moon blieb keine Zeit zu antworten, denn Lady
Glyde blieb bei einer kleinen Gruppe von Damen stehen; sie drängten sich um
einen jungen Mann, der hier Hof hielt. Ein wenig von dem, was er sagte, drang
Moon ans Ohr – es klang nach einem entbehrlichen Disput über Amerika.
    Aus der gesellschaftlichen Elite rund um Lady
Glyde stach dieser Mensch in seiner Unansehnlichkeit richtiggehend hervor:
klein, untersetzt, sommersprossig und gestraft mit einem unschönen rötlichen
Haarschopf; mit seinen in einen schlecht sitzenden Smoking gepressten
Hängeschultern wirkte er wie ein Fremdkörper, ein Eindringling – eine Motte
unter all diesen Schmetterlingen. Sein Gesicht zeigte bemerkenswert abstoßende
Züge, und an seiner linken Hand schien ihm ein Finger zu fehlen.
    »Fühlen Sie sich wohl in unserer kleinen
Gesellschaft?«, fragte Lady Glyde.
    Der Mann strahlte. »Sie bringt mir eine
wundervolle Soiree in Bloomsbury in Erinnerung, zu der ich einst eingeladen
war …« Er unterbrach sich, ehe er seine Pointe losließ: »Im Jahr 1934.«
    Moon fasste eine instinktive Abneigung gegen den
Mann. Lady Glyde kicherte auf eine für ihr Alter höchst unpassende Art.
    »Mister Moon!«, sagte die Lady mit dem Stolz eines
Impresarios, der seine beste Varietenummer ankündigte, »darf ich Ihnen Mister
Thomas Cribb vorstellen!«
    »Wir haben uns bereits kennengelernt«, sagte Cribb
hastig.
    Moon vergalt es ihm mit einem funkelnden Blick:
»Das bezweifle ich!«
    »Er wird sich meiner nicht entsinnen, aber ich
kenne Edward gut. Ja, ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass wir
Freunde sind.«
    Lady Glyde lachte, und Moon musterte den Mann mit
einem gehörigen Maß an Ratlosigkeit. Der Schlafwandler hingegen reagierte auf
unerwartete Weise: Beim Anblick des Fremden überflog ein Kaleidoskop von
Gefühlen sein Gesicht – etwas, das einem Wiedererkennen nahe kam, dann
Zweifel, Ärger, Wut, dann Angst. Er drehte sich um und verschwand im Gedränge.
Niemand sah ihn jedoch das Haus verlassen.
    »Mister Cribb«, sagte Lady Glyde, »es hörte sich
an, als hätten Sie und die Damen eine äußerst spannende Unterhaltung geführt,
als wir zu Ihnen stießen.«
    »O ja! Sprechen Sie weiter! Sprechen Sie weiter!«,
kreischte eine seiner Bewunderinnen, und die anderen quiekten ihren
hohlköpfigen Beifall.
    Cribb gab eine wenig überzeugende Vorstellung von
Verlegenheit, bevor er sich – unausweichlich – ihren Wünschen beugte.
»Ich sprach von Amerika«, erklärte er, »und davon, was das Land in wenigen
Jahren alles erreichen wird.«
    »Und was wird das sein?«, fragte eine der Damen.
»Kultiviertheit, vielleicht?« Sie prustete los, übermannt von ihrer eigenen
Schalkhaftigkeit.
    »Es wird zu einer Großmacht«, sagte Cribb
ernsthaft, »zu einer mächtigen Nation, die die unsere in den Schatten stellt.
Unser Weltreich schwindet dahin und stirbt.«
    Mit Ausnahme Moons lachten alle laut auf. Lady
Glyde brach beinahe zusammen unter ihrem Entzücken. »O Thomas!«, keuchte sie.
»Sie Schlimmer!«
    Auf den Lippen des Mannes erschien etwas, das er
wohl fälschlicherweise für ein schillerndes Lächeln hielt. »Ich habe die
Zukunft gesehen, Madam. Ich habe sie durchlebt.«
    Thomas Cribb war ein Rätsel.
    Wie es bei Männern dieses Schlages oftmals der
Fall ist, verlor sich sein Hintergrund im Dunkel zahlloser Gerüchte und
Mutmaßungen. Es konnte sich bei ihm um einen echten Sonderling handeln, um
einen Mann, der sich ganz einfach keine Vorstellung von seiner eigenen Wunderlichkeit
machte; um einen Scharlatan, einen gerissenen Reporter in eigener Sache, der
unseligerweise begonnen hatte, seiner eigenen Berichterstattung Glauben zu
schenken; glaubhafter ist jedoch die Annahme, dass es sich bei ihm bloß um
jemanden handelte, der sich Geschichten aus den Fingern sog, um zu
Gesellschaften eingeladen zu werden.
    Er behauptete, die Zukunft zu kennen, in ihr
gelebt zu haben und zu wissen, wie London in einem Jahrhundert aussehen würde.
Ob ihm das irgendjemand abnahm, ist bedeutungslos. Worauf es jedoch ankam, war
der Umstand, dass ihm diese Geschichten eine Faszination und ein Flair
verliehen, welche andernfalls weit außerhalb seiner

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