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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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»Barabbas
hatte recht!«, keuchte er. »Es ist vorbei! Wir haben verloren. Schachmatt.«
    Und dann wurde Edward Moon zum ersten und letzten
Mal in seinem Leben bewusstlos; ohnmächtig sank er in die Arme des Hünen.
    Mrs Grossmith, Speight und der Inspektor rannten
herbei. »Mister Moon!«
    Speight hatte immer noch seine ewige Tafel bei
sich; ihre hintergründige Botschaft war nun das einzige, was vom Theater
übrigblieb:
    JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20
    Die Ereignisse der Nacht schienen ihn
zu einem annähernd nüchternen Zustand wachgerüttelt zu haben. »Herr im Himmel«,
sagte er und starrte auf das Werk der Zerstörung. »Was werden wir jetzt nur
machen?«

ZEHN
    Unter der Stadt, tief unter dem Alltag
auf den Straßen und Bürgersteigen, liegt der alte Mann und träumt.
    Eingesponnen in die Unterwelt, hat die Zeit keine
Bedeutung für ihn, und so fehlt ihm jede Vorstellung für die Dauer seines
Schlummerns: Jahre mögen in der Welt da oben vergangen sein – oder kaum
ein paar Stunden.
    Die Träume dieses unterirdischen Rip van Winkles
unterliegen keiner Logik, keiner Gesetzmäßigkeit. Manchmal glaubt er, von der
Vergangenheit zu träumen, dann wieder von etwas wie Schatten, zurückgeworfen
von der Zukunft. Gelegentlich zeigen sich ihm Dinge, die keinerlei Bezug zu
seinen eigenen Erlebnissen zu haben scheinen – bloße Bruchstücke, Fetzen
aus den Erinnerungen fremder Menschen.
    Ein schwacher, pfeifender Schnarchton entweicht
seiner Kehle; er dreht sich auf die andere Seite und kehrt zurück in die
Vergangenheit.
    Es sind wieder seine letzten Tage in Highgate; die
Vision ist so lebendig und real, dass er selbst den Geruch seines alten Zimmers
einfangen kann, den dumpfen, muffigen Gestank nach Schweiß, Schnupftabak,
ungewaschenen Bettlaken und kalten Furzen. Gillman ist da; das Arzneifläschchen
in einer Hand, den Nachttopf in der anderen, macht er wie immer viel zuviel
Aufhebens um ihn. Eine weitere Gestalt, eine zwergenhafte Silhouette, die sich
gegen das Fenster abhebt und deren Gesicht unsichtbar bleibt. Der Alte versucht
krampfhaft, sich daran zu erinnern, doch noch ehe er in der Lage ist, den
Fremden zu identifizieren, löst sich die Szene auf und lässt eine andere, viel
frühere Zeit zutagetreten. Er ist wieder jung und in Syrakus – seine
hochschwangere Frau ist schon lange den ungewissen Gnaden von Familie und
Freunden zu Hause ausgeliefert. Zufällig stößt er auf eine Ausgrabung, bleibt
stehen und verfolgt hingerissen viele heiße Stunden lang, wie die Männer die
kopflose Statue der Venus von Landolina behutsam freilegen und aus der Erde
holen – ein Stück Schönheit, das aus dem Staub zurückkehrt in die Welt der
Lebenden. Er sieht zu, wie sie Sand und trockenen Schlamm aus den feinen Linien
der Marmorbüste bürsten, und betrachtet den fleckigen Stumpf, auf dem ihr Kopf
einst saß – mit einem Gesicht, das, wie er hörte, von erlesenem,
makellosem Liebreiz gewesen sein soll. Wortlos erlebt er mit, wie dieses
vollkommene Wesen, diese steinerne Göttin, aufersteht.
    Unter ärgerlicher Missachtung der zeitlichen
Abfolge kippt der Traum, und er ist wieder alt, wieder zurück in diesem
übelriechenden Raum, wo Gillman noch immer mit Arzneifläschchen und Nachttopf
um ihn herumschwirrt und der Zwerg am Fenster sich noch immer im Halbdunkel
verbirgt. Ungeachtet der Nüchternheit des Rahmens verspürt der Träumer die
Gewissheit, dass er an einem Angelpunkt seines Lebens angelangt ist, an einem
zentralen Moment, dessen wahre Bedeutung sich ihm erst offenbaren wird.
    Der Fremde am Fenster dreht sich um, tritt ins
Licht und beginnt zu sprechen.
    Der alte Mann stöhnt leise auf und bewegt sich im
Schlaf. Über ihm tost die Stadt unbekümmert weiter, blind und taub gegen die
Bedrohung, die unter ihr schlummert.
    In neuneinhalb Meilen Entfernung bekam
der Gefangene Nummer W578 Besuch.
    »Meister?«
    Barabbas watschelte ans Gitter seiner Zelle.
»Bringst du es mir?«
    »Es ist hier, Sir.« Meyrick Owsleys kurze, dicke
Finger fuhren pfeilschnell zwischen die Stäbe, um ein kleines purpurnes
Kästchen in die Hände des Insassen zu übergeben. Barabbas packte es mit der
unersättlichen Raffgier eines verzogenen Kindes und verschwand damit in die
Ecke seines Verlieses. Owsley erhaschte einen flüchtigen Blick auf etwas
Glitzerndes, auf das kurze Schimmern von etwas metallisch Glänzendem und sehr
Teurem. Barabbas klappte das Kästchen zu und fügte es seinen mageren Schätzen
hinzu, die er sonst,

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