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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Wahrheit herausfinden.«
    »Ich fürchte, ich sehe immer noch nicht ein,
weshalb das alles für uns von Interesse sein sollte.«
    Mit kummervoller Miene drückte Skimpole den
Stummel seiner Zigarre aus. »Madame Innocenti hat im Laufe ihrer Weissagungen
drei Namen erwähnt: Cyril Honeyman. Philip Dunbar.«
    Moon nickte gleichmütig, denn das hatte er
erwartet.
    Skimpole schluckte. »Und Edward Moon«, murmelte
er.
    Für den Wohnsitz einer modernen
Kassandra wirkte Madame Innocentis Haus enttäuschend farblos. Es war zwar auf
seine Weise solide und ansehnlich – ein bescheidenes, halb freistehendes
Häuschen, das als Heim etwa einer Lehrerin, eines Beamten oder eines
Buchhalters mehr als annehmbar gewesen wäre, doch für eine Prophetin von Madame
Innocentis Macht und Einfluss mutete es, um ehrlich zu sein, beinahe verdächtig
an. Es sah abgewohnt und vernachlässigt aus, und erweckte den Anschein von
Herrenlosigkeit und Verfall.
    Moon trat an die morsch wirkende Eingangstür und
klopfte mit dem alten Messingring, der unerwarteterweise nicht unter seiner
Hand zerfiel, so sanft es nur ging dagegen.
    Der Schlafwandler sah sich um, betrachtete das
trostlose Grau in Grau, die finstere Eintönigkeit von Tooting Bec, und rümpfte
die Nase vor Abscheu. Der Albion Square, das Theater des Unglaublichen, ja
selbst Yiangous Opiumhöhle – alle waren, so unerfreulich sie im einzelnen
auch sein mochten, wenigstens erfüllt von Farbe; sie verfügten über einen
Glanz, eine Buntheit, die an Lustbarkeit und Kurzweil gemahnte. Nichts davon
gab es in Tooting Bec, dem Möchtegern-Delphi von London; dafür war es zu fahl,
zu trist – zu langweilig und gewöhnlich.
    Die Tür ging auf, und ein schlaksiger, nervöser
Mensch starrte heraus – erschrocken und argwöhnisch. Ungeachtet seiner
offensichtlich jungen Jahre hatte sein Haaransatz schon angefangen
zurückzuweichen; dazu war er geschlagen mit allzu dicken Brillengläsern, die
ihm ein eulenhaftes Aussehen verliehen.
    »Ich bin Edward Moon, und dies ist mein Assistent,
der Schlafwandler. Wir werden erwartet, glaube ich.«
    »Natürlich.« Der Mann nickte wiederholt und mit so
zwanghafter Nachdrücklichkeit, dass Moon sich fragte, ob er nicht an den frühen
Symptomen einer scheußlichen degenerativen Krankheit litt. »Treten Sie ein.
Meine Frau wird gleich bei uns sein.«
    Er führte die beiden Besucher durch eine
schmuddelige Diele in einen verdunkelten Empfangssalon, der von einem runden
Dutzend zuckender Kerzenflammen nur schwach erhellt wurde. Ein langer, schmaler
Tisch stand in der Mitte des Raums, umgeben von neun leeren Stühlen.
    »Hier wird es stattfinden«, sagte der Mann mit
unheilschwangerer Stimme. »Tee?«
    Moon antwortete für sie beide; der Gastgeber
verbeugte sich und verschwand.
    »Reicht es dir jetzt schon?«, fragte Moon, doch
noch ehe der Schlafwandler eine Antwort aufschreiben konnte, kehrte der
Hausherr geschäftig zurück.
    »Tee und Milch sind bereits auf dem Weg. In der
Zwischenzeit erlauben Sie mir, Ihnen meine Gattin vorzustellen.«
    Er machte den Weg frei, und eine Frau trat –
oder, besser, glitt – durch die Tür. Sie war gut und gern in mittleren
Jahren, sah aber bemerkenswerter, eleganter und unendlich aparter aus als jede
junge Dame, die nur halb so alt war wie sie. Ihr Gesicht wurde umrahmt von
einem Kranz kastanienbrauner Locken, und ihre katzenhaft geschmeidige Figur war
in ein eng anliegendes helles Kleid geschnürt, was die sanft wogende Wölbung
ihres Busens erfreulich betonte.
    Moon war sich nicht sicher, was er erwartet
hatte – eine zahnlose Zigeunerin vielleicht, eine billige, auf den ersten
Blick als solche erkennbare Schwindlerin mit vulgären Ohrringen und unechtem
Schmuck –, aber ganz gewiss nicht einen so vortrefflichen Anblick wie
diesen.
    Sie lächelte, wobei sie zwei Reihen makelloser
Perlenzähne entblößte. »Mister Moon. Schlafwandler. Es ist mir eine Ehre. Sie
müssen verzeihen, wenn ich etwas aufgeregt bin, aber ich muss gestehen, dass
ich so etwas wie Ehrfurcht verspüre.«
    »Vor mir?«, begann Moon sichtlich geschmeichelt,
nur um von einem diskreten, jedoch grausamen Rippenstoß seines Begleiters zum
Verstummen gebracht zu werden. Dann verbesserte er sich: »Vor uns?«
    »Ich habe Ihre Darbietung schon mindestens fünfmal
gesehen. Mein Mann und ich waren jedes Mal voller Bewunderung.« Sie wandte sich
an ihren kahl werdenden Gemahl. »Nicht wahr, mein Täubchen?«
    Er mümmelte etwas Zustimmendes.
    »Es ist so

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