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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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missbilligendes Rumoren unter den Getreuen
folgte, aber Mrs Erskine fuhr fort: »Der Name dieser Frau ist und war nie
Madame Innocenti. Ihr Name ist Ann Bagshaw.«
    Der Ehemann der Frau, um die es ging, rannte
herbei, um gegen diese Anschuldigungen zu protestieren, aber die Betroffene
winkte ihn mit zahmer Geste zurück.
    »Vorhin habe ich anscheinend mit meinem
verstorbenen Sohn gesprochen«, sagte Mrs Erskine. »Aber ich habe gar keinen
Sohn, weder unter den Lebenden, noch unter den Toten. Wenn man Mrs Bagshaw
glauben darf, dann habe ich heute mit einem Jungen gesprochen, der nie
existiert hat.«
    Madame Innocenti erlangte ihre Fassung wieder,
schien sich jedoch nicht an diejenige zu wenden, deren Beschuldigungen in der
Luft hingen, sondern an Edward Moon. »Was geschehen ist, war vollkommen echt«,
beharrte sie. »Die Warnungen waren Realität.«
    Daraufhin herrschten ein solches Entsetzen und ein
allgemeiner Tumult, dass Moon schreien musste, um sich Gehör zu verschaffen.
»Bitte! Sie haben noch nicht die ganze Wahrheit gehört!« Absolute Stille senkte
sich über den Raum, und alle Gesichter – jene der Prophetin und ihrer
Gegenspielerin eingeschlossen – wandten sich Moon zu. »Unsere Gastgeber
mögen zwar nicht unbedingt dem entsprechen, was sie vorgeben zu sein, aber
ebenso verhält es sich, wie ich meine, mit Mrs Erskine.«
    Die Alte murmelte etwas in sich hinein.
    »Sehen Sie sich doch ihre Hände an, meine Damen
und Herren! Viel zu beweglich, zu weich und glatt! Viel zu jugendlich für diese
vorgebliche Bejahrtheit, möchte ich meinen.«
    Mrs Erskine schoss ihm einen bösen Blick zu,
drängte sich an Ann Bagshaw vorbei und flitzte mit einer für ihr
fortgeschrittenes Alter völlig undenkbaren Blitzartigkeit aus dem Salon. Ihre
Schritte klapperten durch das Haus und hinaus auf die Straße – die
sprichwörtliche Ratte, die ihren leckgeschlagenen alten Kahn verließ, ehe er
unterging.
    Rasch wandte sich Moon an seinen Freund. »Sieh zu,
dass alle hierbleiben, bis ich zurückkomme. Mir ist gerade klar geworden, mit
wem wir es zu tun haben.«
    Mittlerweile hatte es heftig zu regnen begonnen,
und schon nach einer kurzen Strecke, die er im Laufschritt zurückgelegt hatte,
war er völlig durchnässt. Ein Stück vor sich konnte er Mrs Erskine erkennen,
die durch den Regen rannte und ihr Heil offenbar in den trostlosen Straßen und
Gassen von Tooting Bec suchte.
    Die wilde Verfolgungsjagd dauerte nicht länger als
fünf oder sechs Minuten, aber es schien beiden, als würde es sich um Stunden
handeln. Unerbittlich peitschten Regenwände nieder, und Moon konnte nicht mehr
als ein paar Schritte weit voraus sehen. Dessenungeachtet stürmte er weiter,
kämpfte sich an schirmbewehrten Fußgängern vorbei, wie vorwärtsgetrieben von
einem inneren Zwang, Mrs Erskine auf den Fersen zu bleiben – ein Spürhund,
der einer Fährte folgte.
    In einem blinden Gässchen holte er sie schließlich
ein, und dort standen sie einander gegenüber wie ausgepumpte Boxer nach dem
letzten Gong, keuchend und etwas verlegen über dieses ernüchternde Ende der
Jagd. Mrs Erskines Make-up war vom Regen fast abgewaschen – Farbe, Puder
und Fettschminke liefen ihr übers Gesicht, und die dicken vielfarbigen Rinnsale
verliehen ihr das Aussehen eines Clowns, den ein Wolkenbruch überrascht hatte.
Doch nun blitzte unter den Resten Mrs Erskines eine viel jüngere Frau
hervor – Anfang dreißig und keine wirkliche Schönheit (dafür war ihre Nase
zu groß), aber unter den Matronenkleidern, die ihr klitschnass am Leib klebten,
ließen sich die Umrisse einer äußerst gefälligen Figur erkennen.
    Moon starrte sie an; sein Verdacht war bestätigt,
und dieser Zustand zwischen Schock und freudiger Erregung verursachte ihm
plötzlich heftige Übelkeit. »Du bist es tatsächlich!«, rief er. »O mein Liebes,
du bist zu mir zurückgekommen!« Er sank auf die Knie. »Mein kleiner Schatz!
Mein Engel!«
    Sie sah auf ihn hinab, die Augen kalt und
mitleidlos. »Du machst dich zum Narren«, sagte sie. »Steh auf, Edward.«

ZWÖLF
    Mister Skimpole hatte sich sein Leben
lang bemüht, achtbar zu sein. Natürlich hatte er seine Fehltritte und
Versuchungen erlebt – besonders als jüngerer Mann –, doch heutzutage
strebte er nach einem makellosen, tugendhaften Dasein, nach einem Leben der
Enthaltsamkeit, des Anstands und der Mäßigkeit, frei von Genusssucht und
Übermaß. Nur einen einzigen Luxus gönnte er sich: einmal am Tag – und zwar
jeden

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