Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
Arbeit.«
    Skimpole wandte sich zum Gehen, und gerade als er
durch die Tür wollte, tauchte der Schlafwandler auf. Als er Moon und die
Verwüstung erblickte, die ihn umgab, schüttelte der Hüne traurig den Kopf,
wandte sich wieder ab und ging am Albino vorbei über den Korridor davon. Moon
machte keinerlei Anstalten, ihn zurückzurufen.
    Als er schließlich sein Schlafzimmer
verließ, fingen die Ereignisse der vergangenen Stunden glücklicherweise an,
gnädig in der Vergangenheit zu verschwimmen. Sein Zusammensein mit Cribb hatte
bereits den Hauch des Unwirklichen an sich – wie etwas, das jemand anderem
widerfahren war. Er wusch sich, rasierte sich, kämmte das schütter werdende
Haar zurück und machte sich gelockert auf den Weg zum Archiv.
    Wenigstens schien die Archivarin erfreut, ihn zu
sehen. »Hörte, dass man Sie rekrutiert hat«, sagte sie, nachdem ein anderer
namenloser Bibliothekar Moon in die unterirdischen Räume geleitet hatte. »In
den Staatsdienst gestellt, nicht wahr? Mister Skimpoles Jungs?«
    Moon hatte schon vor Jahren gelernt, sich von der
anscheinenden Allwissenheit der Archivarin nicht überraschen zu lassen, doch
selbst unter dieser Voraussetzung konnte er nicht anders als von der kühl
amtlichen Art, in der sie das Kernstück seiner misslichen Lage beschrieb,
verblüfft zu sein.
    »Jawohl, Madam. Sie …?«
    »Ja?« Die blicklosen Augen schienen sich
wunderlich in seine Richtung zu drehen.
    »Sie kennen Mister Skimpole, Madam? Kommt
er … Kommt er gelegentlich her?«
    Die Archivarin wandte sich ab und machte sich an
einem Regal zu schaffen, das überquoll von zerfallenden Nummern des
Punch
,
vergilbten Steckbriefen mit der Beschreibung polizeilich Gesuchter und
knarrenden ledergebundenen Enzyklopädien. »Also wirklich!«, schalt sie. »Sie
wissen doch, dass ich verschwiegen sein muss!«
    »Ich nehme an, damit meinen Sie »ja«,«
    »Ich kann Sie nicht davon abhalten, Ihre eigenen
Schlüsse zu ziehen.«
    »Nein«, sagte Moon nachdenklich, »das können Sie
nicht.«
    »Wonach suchen Sie heute?«
    »Nach allem, was Sie über eine gewisse Madame
Innocenti haben. Hellseherin in Tooting Bec.«
    Ohne ein Wort verschwand die Archivarin und kehrte
kurz darauf mit zwei dünnen Büchern zurück. »Das ist alles, was ich habe. Sieht
so aus, als wäre sie bereits ein-, zweimal mit dem Gesetz in Konflikt
gekommen.«
    Moon nahm die Bändchen in Empfang und dankte ihr.
»Archivarin?«
    »Ja?«
    Er zögerte, unsicher geworden. »Haben Sie je von
einem Mann namens Thomas Cribb gehört?«
    Da keine Antwort kam, nahm Moon an, dass sie ihn
nicht gehört hatte, und war dabei, seine Frage zu wiederholen, als die
Archivarin sagte: »Einen Moment. Vielleicht habe ich da etwas für Sie.« Ein
ungewohntes Tremolo lag in ihrer Stimme.
    Als sie wieder auftauchte, schob sie einen Wagen
vor sich her, auf dem sich Aufzeichnungen, Berichte, Aktenbündel, Register und
etwas, das nach Zeitungspaketen aus dem neunzehnten Jahrhundert aussah,
stapelten. Mit pfeifender Lunge bahnte sie sich ihren Weg zu Moon und stützte
sich mit überraschender Kraft auf seine Schulter, um Atem zu holen. Ein halbes
Dutzend Blätter und ein dickes Buch fielen vom Wagen.
    »Was ist das alles?«
    »Das?« Die Archivarin rang nach Luft. »Das ist
gerade erst der Anfang. Fünfmal soviel wartet noch auf Sie.«
    »Aber das betrifft doch nicht
alles
Mister Cribb?«
    »Ich fürchte, doch.«
    Moon griff nach einem Bündel Schriften und
unterdrückte ein Niesen, als eine Staubwolke von dem Stapel aufstieg. »Wie weit
reicht das alles zurück?«
    Die Archivarin schluckte. »Über mehr als ein
Jahrhundert. Es scheint, Ihr Freund weilt schon länger unter uns, als Sie
dachten.«
    Das angespannte, bedrückende Schweigen, das
folgte, wurde erst unterbrochen, als Moon sich eine Zigarette anzündete,
nachdem er eine ganze Weile hektisch nach dem Etui und den Streichhölzern
gesucht hatte. Später erzählte er mir, dies sei das einzige Mal gewesen, dass
die Archivarin gebeten hatte, sich ihm anschließen zu dürfen, worauf ihre
uralten, knotigen Hände in stiller, unausgesprochener Verzweiflung zitternd
nach der Zigarette griffen.
    Als Moon ins Hotel zurückkam, wartete
der Schlafwandler schon auf ihn. Reihen leerer Gläser mit milchig matten Resten
darin schlängelten sich über den Tisch, an dem er saß – der Bodensatz
eines langen, einsamen Abends.
    Noch mehr als Moon hatte die Zerstörung des
Theaters den Riesen getroffen – das
ancien régime
war

Weitere Kostenlose Bücher