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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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passable Abklatsch einer kippenden Jungenstimme, die
sich ihrer endgültigen Tonlage noch nicht sicher war.
    »Billy?«, fragte Mrs Erskine in einer Mischung aus
Schmerz und Hoffnung. »Billy, bist du das?«
    »Mutter! Warum kommst du erst jetzt? Ich bin schon
so lange hier! Ich habe auf dich gewartet!«
    Mrs Erskine schluchzte auf. »Es tut mir leid,
Billy. Kannst du mir vergeben?«
    »Kommst du bald zu mir? Es ist so warm und wohlig
hier, es wird dir gefallen, Mutter, das weiß ich!« Die Stimme nahm einen
scheinheilig betrübten Tonfall an: »Aber was ist mit dir geschehen, Mutter? Du
siehst so alt aus!«
    Mrs Erskine schluchzte wieder, und Madame
Innocenti murmelte: »Mutter, ich liebe dich sehr.«
    Dieser Wortwechsel ging weiter und weiter,
stundenlang, wie es schien, und Moon spürte schließlich, dass er kurz vor einem
leichten Hinwegdösen stand, als er plötzlich seinen Namen hörte.
    »Mister Moon?« Es war Madame Innocenti in ihrer
Rolle als Corcoran.
    »Señor«, meldete sich Moon zur Stelle. »Welch eine
Freude, Sie wiederzutreffen.«
    »Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen. Nur noch
sieben Tage, und Sie haben nicht das geringste unternommen!«
    »Ich war sehr beschäftigt.«
    »In etwas mehr als einer Woche wird diese Stadt in
Flammen aufgehen, und Sie haben nichts getan, um das zu verhindern! Die
Jenseitigen fürchten sich, Mister Moon! London ist in großer Gefahr!«
    »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
    »Honeyman war ein Köder. Sie haben ihn geschluckt
und merken es gar nicht. Man benutzt Sie!«
    »Fahren Sie fort.«
    »Im Untergrund!« Corcorans Tonfall wurde noch
eindringlicher. »Gefahr lauert im Untergrund!«
    »Gefahr?«
    Mit krampfhaft durchgebogenem Rücken warf Madame
Innocenti plötzlich den Kopf nach hinten, und Moon und der Schlafwandler
spürten, wie ihre Hände so heftig zu zittern begannen, als hätte eine
unsichtbare Macht sie zu einem Eigenleben erweckt. »Der Tod der Stadt kommt
näher«, krächzte sie. »Die Verschwörung zielt auf Sie! Der Stein zerspringt.
Der Schläfer erwacht.«
    Seinem Misstrauen zum Trotz fühlte Moon sich
unwiderstehlich in ihren Bann geschlagen. »Was meinen Sie damit?«
    »Skimpole ist eine bloße Schachfigur.
Sie
sind das Ziel! Und Sie tragen die ganze Schuld.«
    Moon und ich diskutierten Madame
Innocentis Warnungen ausführlich. Selbstverständlich klangen sie ganz genau so
dunkel und orakelhaft wie man erwarten könnte, doch andererseits waren sie bei
einer ganzen Reihe wesentlicher Dinge erstaunlich zutreffend. Eine Zeit lang
verfocht Moon die Meinung – wohl eher in dem Versuch, weniger mich als
vielmehr sich selbst zu überzeugen –, dass sie einen Großteil der
Informationen von Skimpole, Lister oder jemand anderem dieser Sorte bezogen
haben mochte, doch am Ende waren wir gezwungen einzuräumen, dass Madame
Innocenti tatsächlich keine Schwindlerin gewesen sein könnte.
    Madame Innocenti öffnete die Augen, und
was dann geschah, überraschte selbst Moon. Später war sich keiner mehr völlig
sicher, was er gesehen hatte, und unter den Anwesenden gab es bis auf die
grundlegendsten Tatsachen völlige Uneinigkeit. Moon selbst hatte den Eindruck,
dass Madame Innocentis Augen plötzlich ein dunkles Scharlachrot annahmen,
andere, dass sie grün oder schillernd gelb wurden; Mrs Erskine behauptete (doch
ihrer Aussage ist, wie Sie in Kürze entdecken werden, nicht ganz zu trauen),
dass sie gespenstisch schwarz funkelten. Die Farbe selbst ist natürlich kaum
von Wichtigkeit; bedeutsam ist, dass ohne Zweifel etwas Bemerkenswertes, etwas
fraglos Außergewöhnliches geschah.
    Das Medium schrie auf, stürzte zu Boden und blieb
dort in tödlicher Reglosigkeit liegen. Einige der Augenzeugen behaupteten
sogar, dünne Rauchfahnen aus Madame Innocentis Mund und Nasenlöchern gesehen zu
haben, so als würde irgendein grässlicher Dampfkessel in ihrem Inneren sein Gas
ablassen.
    Der Bann, unter dem alle standen, war jedoch sehr
bald gebrochen. Mrs Erskine mit ihren wenigstens siebzig Jahren
schnellte – ja,
schnellte
! – von ihrem Stuhl hoch, rannte
mit ein paar Sätzen rund um den Tisch zu Madame Innocenti, riss sie auf die
Füße und schlug ihr hart ins Gesicht.
    »Ann Bagshaw?« Mrs Erskine sprach den Namen laut und
deutlich aus wie ein Polizist, der einen Verdächtigen festnimmt.
    Mrs Erskine wandte sich an die anderen Gäste.
»Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie meine Einmischung. Ich vertrete den
Sicherheitsausschuss.«
    Ein

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