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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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Clapham
vorgegangen ist. Ich musste aus der Zeitung davon erfahren.«
    »Tatsächlich? Das ist mir völlig entgangen.«
    Das darauffolgende Schweigen wurde vom vertrauten
Knirschen der Kreide auf der Tafel unterbrochen. Der Schlafwandler hatte
begonnen, sich ausgeschlossen zu fühlen.
    WAS ZU DRINKEN
    »Famose Idee!«, rief Moon in einem
unerwarteten Ausbruch von Fröhlichkeit. »Charlotte?«
    »Ein kleines Glas nur«, sagte sie zögernd. »Nichts
allzu Starkes.«
    Aber Moon rannte bereits durstig hinüber zum
Tresen und war längst außer Hörweite. Als er seine umfangreiche, kostspielige
Bestellung aufgab, entbot er dem Barmann sein schönstes Hailächeln. »Und achten
Sie darauf«, grinste er, »dass Sie all das auf Mister Skimpoles Rechnung
setzen.«
    Limehouse ist einzigartig unter Londons
Stadtbezirken; es gehört einfach nicht zu England. Die seltsamen Gerüche, die
sich durch die Straßen ziehen, weisen entschieden fremdländischen Charakter
auf; die Anschlagbretter, Aushängeschilder und Hinweistafeln sind übersät mit
unergründlichen Schriftzeichen, die Uneingeweihte verwirren; die Menschen,
obwohl entgegenkommend und recht gesittet, sind samt und sonders blässlich und
gelbhäutig. Sollten Sie je durch diese grellbunten, hektischen Straßen wandern,
wird dieses Viertel auf Sie zweifellos genau so wirken wie auf mich: nämlich
wie ein Teil einer fernöstlichen Stadt, den man von dieser abgetrennt und
mitten unter Londons Bezirke fallengelassen hat – die Vision eines
undenkbaren England, in dem das Empire untergegangen und der Orient König ist.
    Da mutete es wohl merkwürdig an, Mister Skimpole
mit solch festem Schritt und solcher Ungezwungenheit durch diese Straßen laufen
zu sehen, doch auch seine Erscheinung war so ausgefallen wie immer –
Kneifer auf der Nasenspitze, Haar und Haut weiß wie ein Laken. Daraus könnte
man mit einiger Berechtigung schließen, dass er unter dieser Masse gelber
Gesichter wie ein Fremdkörper wirkte, aber seine Umgebung schien ihn freundlich
und fast wie einen der Ihren aufzunehmen, und er rief keine offene Neugier
hervor, keine aufdringlichen Blicke, kein unterdrücktes Lachen.
    Nicht ganz eine halbe Stunde, nachdem er das Hotel
verlassen hatte, erreichte der Albino sein Ziel und hielt vor einem
heruntergekommenen Metzgerladen jener Sorte, die aussieht, als existiere sie
seit Jahren, ohne je von einem Kunden betreten zu werden; Spinnweben und
schwarzbraune Rinnsale verdunkelten die Schaufenster, die zu alldem innen mit
einem matten Belag aus fettigem Dunst und etwas, das aussah wie eingetrocknetes
Blut, bedeckt waren. Auf einem Spieß im Fenster briet irgendein Vogel, dessen
nackter Kadaver sich langsam im Schein der Glut drehte, um unter den Blicken
der Passanten zusehends brauner und knuspriger zu werden. Skimpole konnte nicht
feststellen, als welche Spezies der Vogel sein früheres Dasein verbracht
hatte – als Ente vielleicht oder als Huhn oder als irgendein namenloses
Federvieh, das nur den Völkern des Orients bekannt war. Doch als er so zusah,
wie sich das Ding behäbig hinter dem Glas drehte, musste er unwillkürlich an
Mrs Puggsley denken und verspürte ein kurzes Aufflackern von Schuldbewusstsein.
Tapfer verjagte er das schlechte Gewissen, riss sich los von der Last dieser
Vergangenheit, und erst nachdem er das Bild vor seinem geistigen Auge restlos
vertrieben hatte, betrat er den Laden.
    Als er die Tür aufstieß, klingelte ein Glöckchen,
und ein junger Chinese tauchte auf, der ihn mit einer tiefen Verbeugung und den
Worten: »Wie schön, Sie zu sehen, Sir!«, begrüßte.
    »Guten Tag«, sagte Skimpole herablassend. Er hatte
sich nie die Mühe gemacht, den Namen des jungen Mannes in Erfahrung zu
bringen – ebensowenig wie jenen seines Vaters, der vor ihm den Laden
besessen und geführt hatte. Und der Albino sah keinen Grund, nun, zu diesem
späten Zeitpunkt, von den alten Gepflogenheiten abzuweichen. Wie der Vater, so
der Sohn, gewissermaßen …
    Entschlossen durchschritt er den Laden.
Salzbedeckte Fleischklumpen undefinierbaren Ursprungs hingen an Haken über dem
Tresen, etwas alt und sauer Riechendes blubberte dampfend in einem Topf, und
der Gestank nach frischem Blut war überwältigend. Skimpole ignorierte das
alles; zu gut kannte er diesen Ort, um sich von seinem Hexenkesselqualm und der
rauchigen Flaschengeist-Bedrohlichkeit aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ist er
da?«, fragte er.
    »Ja. Er wartet schon«, antwortete der Chinese an
seiner

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