Das Albtraumreich des Edward Moon
dahin, aber
unter Skimpoles neuer Obrigkeit gab es für Moon wenigstens Rätsel aufzulösen,
Missionen zu erfüllen, die endlose Honeyman-Sache, die Moon Abwechslung
brachte; der Schlafwandler hingegen war in jenes Tal gesunken, das bei jedem
anderen Menschen als tiefste Melancholie gegolten hätte. Die Verständigung
zwischen ihnen beiden war immer schon bestenfalls bruchstückhaft vor sich
gegangen, hatte sich über Zeichen, Gesten und die Stakkatomitteilungen auf der
Kreidetafel abgewickelt, aber nach und nach war Moon der Verdacht gekommen,
dass der Freund die Vorstellungen – seine allnächtliche Dosis
Rampenlicht – weitaus stärker vermisste, als er je zugegeben hätte.
Moon wagte ein nichtssagendes Lächeln, und der
Riese nickte verdrossen zurück.
»Gestern traf ich Mister Speight. Er sah recht gut
aus. Ich meine natürlich, nicht wirklich
gut
– eben so wie
immer.«
Der Schlafwandler zuckte theatralisch die Achseln.
»Ich habe den ganzen Tag im Archiv verbracht. Habe
eine Menge über Madame Innocenti herausgefunden.«
Der Riese warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu,
trotzig wie ein Kind, das sein Gemüse nicht essen will. Ohne darauf zu achten,
sprach Moon rasch weiter. »Es sieht so aus, als wäre sie nicht ganz aufrichtig
zu uns gewesen. Ihr wahrer Name ist Ann Bagshaw. Bevor sie Prophetin wurde, war
sie Näherin. Hatte eine kleine Werkstatt beim Kennington Oval.«
Der Schlafwandler schrieb etwas auf die Tafel, und
Moon, erleichtert, wenigstens irgendeine Reaktion zu bekommen, beugte sich vor
und las:
SIE NOCHMAL BESUCHEN?
»Ah ja. Nun, Mister Skimpole hat es so
eingerichtet, dass wir morgen an einer weiteren Soiree bei ihr teilnehmen
können. Vielleicht klären sich dann einige Dinge.«
Der Schlafwandler leerte sein letztes Glas Milch,
nahm Kreide und Tafel an sich und erhob sich mit schwerfälliger Würde vom
Stuhl.
»Sehe ich dich morgen?«, rief Moon ihm
hoffnungsvoll nach. »Vor der Séance?«
Der Schlafwandler trottete missgelaunt Richtung
Suite davon. Seit dem Theaterbrand teilten sie das Zimmer nicht mehr – bei
einem Hotel, das so vornehm war wie dieses, war an den Einsatz von Stockbetten
natürlich nicht zu denken.
Am Morgen fand eine Art ruppige
Wiederannäherung statt. Der Schlafwandler kritzelte etwas auf die Tafel, was
man bei großzügiger Auslegung als Entschuldigung gelten lassen konnte, worauf
Moon ihn mit Beteuerungen seiner unverbrüchlichen Freundschaft überhäufte. Im
Geiste dieses verlegenen Waffenstillstands machten sich die beiden nach dem
Mittagmahl auf den Weg nach Tooting Bec.
Madame Innocenti erwartete sie bereits auf den
Stufen ihres schäbigen Hauses. »Meine Herren!« Sie war das personifizierte
Lächeln. »Welch eine Freude, Sie abermals bei uns zu haben!«
Moon verbeugte sich und sagte höflich: »Mrs
Bagshaw«
Sie erstarrte, und Moon bemerkte den Anflug von
Furcht auf ihrem Gesicht, aber sie fand ihre Gelassenheit sofort wieder und
ging ins Haus voran, als wäre nichts geschehen. Als sie über den Korridor zum
Empfangssalon gingen, kam Madame Innocentis Gatte aus einer dunklen Ecke
hervor, wo er offensichtlich gelauscht hatte, und durchbohrte die beiden mit
einem Blick blanken Hasses.
Die Séance verlief zunächst genau so wie beim
letzten Mal, und Moon sah sogar einige bekannte Gesichter – Ellis Lister
etwa, oder die Witwe Erskine. Zusammen mit ihnen traf ein ältliches Ehepaar ein
und ein kummervoller Mann in düsterer Trauer um seine verstorbene Frau. Mit
anderen Worten, der übliche Aufmarsch von Sonderlingen und Verblendeten, die
sich verzweifelt an das nichtssagende Säuseln und Gurren ihrer Gastgeberin
klammerten – an diesen Balsam für ihre verwundeten Seelen.
Nach einer halben Stunde geistloser Geselligkeit,
nach vielen Vorstellungen und geschüttelten Händen, nach Tee und Keksen begann
die Séance. Alles glich den Vorgängen beim letzten Mal: Madame Innocenti am
Kopf der Tafel, das rasche Annehmen ihrer Corcoran-Stimme, die verschwommenen,
kunstvoll formulierten Mitteilungen aus dem Jenseits. Zu allererst wandte sie
sich an Mrs Erskine. »Wen wünschen Sie zu sprechen?«, fragte sie in der
förmlichen Sprechweise des Spaniers.
»Meinen Jungen«, sagte Mrs Erskine mit schwacher,
dünner Stimme. »Meinen Kleinen. Billy. Gerade sechzehn, als er starb.«
»Billy?«, flüsterte Corcoran. »Billy? Ist ein
Billy Erskine unter den Jenseitigen?«
Eine Pause. Und dann, wie vorauszusehen: »Mutter?«
Madame Innocenti gelang der
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