Das Albtraumreich des Edward Moon
Seite unbeirrbar gelassen und respektvoll.
Skimpole bemerkte einen weichen Flaum auf der
Oberlippe des jungen Mannes. »Arbeiten wir an einem Bärtchen?«, fragte er
spöttisch.
Der Chinese errötete.
»Na, viel Glück.« Skimpole grinste. »Übrigens, ist
das ein Hühnchen im Fenster?«
Der Ladenbesitzer sah ihn verwirrt an.
»Hühnchen«, wiederholte Skimpole, verärgert über
das offensichtliche Nichtbegreifen des andern. »Hühn-chen!« Immer noch in dem
alten Irrtum befangen, dass sein Gegenüber nur über die allerdürftigsten
Kenntnisse des Englischen verfügte, bemühte sich Skimpole nach Kräften, ein
Huhn nachzuahmen, indem er mit den Armen schlug und dazu gackerte.
Der Mann reagierte nicht, und so ließ Skimpole ihn
einfach stehen. Er trat durch eine Tür am Ende des Raumes, hinter der sich
überraschenderweise ein Fahrstuhl befand. Darin stand ein in eine enge rote
Uniform gezwängter Chinese, der das Metallgitter des Aufzugkorbes zurückzog,
als er den Albino erblickte. »Guten Tag, Mista.«
»Guten Morgen.«
»Nullte Etage?«
»Ja, danke.«
Der Mann drückte einen Knopf. Der Lift setzte sich
mit einem Ruck in Bewegung, der Skimpole den Magen hob, und schlingerte nach
unten, ehe er mit einem Knarren erzitternd zum Stehen kam.
»Nullte Etage«, sagte der Chinese mit routinierter
Ausdruckslosigkeit.
»Danke!«, fuhr Skimpole ihn an. »Das sehe ich!« Er
trat hinaus in einen gediegen und modern eingerichteten Raum, der von einem
riesigen runden Tisch beherrscht wurde. Das war das Direktorium.
Ein massiger, breitschultriger Mann schritt auf
ihn zu, während vier oder fünf Orientalen respektvoll hinter ihm hereilten.
»Skimpole!« Die Wärme in seiner Stimme deutete
darauf hin, dass er erfreut war, den Albino zu sehen, aber dieser wusste genau,
dass es sich nur um höfliche Heuchelei handelte – er hatte sogar den
Verdacht, dass sich dahinter eine lebenslange Geringschätzung, ja Abneigung
verbarg.
Ohne zu denken setzte er sein aalglattes,
berufsmäßiges Lächeln auf. »Dedlock!«
Ein Händeschütteln folgte. Skimpoles Hand war feucht
und klebrig von dem anstrengenden Marsch, und Dedlock versuchte ohne Erfolg,
sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen.
»Ich bitte um Vergebung«, sagte Skimpole,
schlüpfte aus dem Mantel und reichte ihn an einen der wartenden Lakaien, ohne
auch nur hinzusehen, »aber ich hatte im Hotel zu tun.«
»Ah!« Dedlocks Augen glitzerten vor unverhohlener
Wissbegierde. »Mister Moon?«
»Ganz recht«, antwortete Skimpole steif.
»Setz dich hin, alter Freund, und erzähl mir alles
darüber.« Dedlock klang nun polternd und fidel wie ein pensionierter Oberst,
der nichts Bedenklicheres im Sinn hatte als eine Runde Rommé nach dem
Abendbrot.
Sie saßen einander an dem großen Tisch gegenüber.
Dedlock raschelte geschäftig mit einem Bündel amtlich aussehender Papiere, und
Skimpole griff nach Zigarre und Streichhölzern, nur um beides widerwillig in
seine Tasche zurückzustecken, als ihm einfiel, dass er seine tägliche Portion
Luxus bereits genossen hatte.
Seinem kräftig-untersetzten Äußeren nach wirkte Dedlock
wie ein alternder Rugbyspieler, die Sorte Mann (und Skimpole wusste, dass es
sich tatsächlich so verhielt), die sich schon in der Schule beim Sport
ausgezeichnet hatte – einer jener Helden des Spielfelds, die über die
typisch englische Mischung von ungeschlachter Härte und makellosen Manieren
verfügten. Eine hässliche Narbe verlief quer über seine Wange zwischen Nase und
linkem Ohr – das Andenken an eine weit zurückliegende Auseinandersetzung.
Die Narbe war von derart leuchtender Färbung, und Dedlock trug sie mit einer
solch perversen Freude zur Schau, dass Skimpole seit langem argwöhnte, ihr
Besitzer würde ihr grimmiges Aussehen mit Hilfe von Fettschminke
unterstreichen, was angesichts der Eitelkeit des Mannes keineswegs abwegig
erschien.
»Ein Gläschen?«, fragte Dedlock.
Skimpole holte seine Taschenuhr hervor. »Es ist
noch ein wenig früh«, sagte er in einem Tonfall, der an seiner
Bereitwilligkeit, sich überreden zu lassen, keinen Zweifel ließ.
»Wir werden wohl eine Weile brauchen«, drängte der
Narbige. »Warum nicht einmal über die Stränge schlagen?«
Und so fügte sich der Albino. »Also gut.«
Dedlock schnippte mit dem Finger, und einer der
Chinesen trat an seine Seite. Er trug Metzgerkleidung, sein Gesicht war von
auffallend krankhaftem Gelb, und das Haar trug er zu glänzenden schwarzen
Zöpfen geflochten. Eine
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