Das Albtraumreich des Edward Moon
einen Schritt vor. »Erinnerst du dich an
meine Schwester?«
»Charlotte?«, hauchte Barabbas. »Meine Güte, hast
du dich aber verändert! Als ich dich zum letzten Mal sah, warst du ein kleines
Mädchen. Kaum aus der Schule draußen. Und jetzt bist du eine Frau!«
Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination
starrte Charlotte ihn an.
»Entschuldige die Schweinerei hier«, fuhr der
Gefangene fort, während er sich zurück in seine Ecke fläzte, »und versuche
einfach, den Gestank zu ignorieren. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr mich
besuchen würdet.«
»Wie konnte es nur so weit mit dir kommen?«,
fragte Charlotte; die Neugier hatte die Oberhand über den Ekel gewonnen.
Barabbas überhörte die Frage. »Du bist gewachsen«,
stellte er fest. »Angeschwollen an den richtigen Stellen. Voll erblüht und
gereift.« Lüstern flitzte seine Zunge zwischen seinen Lippen hin und her. Dann
zwinkerte er. »Aber bei mir fühlst du dich sicher, nicht wahr?«
»Ich fühle Mitleid mit dir«, erwiderte Charlotte
mit bewundernswerter Zurückhaltung.
»Barabbas«, begann Moon, um sich gleich darauf
ärgerlich zu unterbrechen: »Muss ich dich wirklich so nennen? Charlotte –
sie … Wir kannten dich doch unter einem anderen Namen!«
»Mein Name ist ein für allemal verloren.«
Moon seufzte, griff in seine Tasche und zog eine
kleine, stoffbezogene Schachtel hervor. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
»Bestechung«, schmollte Barabbas.
»Ein Geschenk«, verbesserte ihn Moon in bestimmtem
Tonfall. »Hier.« Er hielt ihm das Schächtelchen hin. »Nimm es.«
Der Gefangene schob seinen monströsen Leib mühsam
über den Steinboden, griff nach dem Kästchen und riss es auf. »Eine
Krawattennadel?«, fragte er, nachdem er den Inhalt eingehend geprüft hatte.
»Für mich?«
»Sie war so hübsch. Vergoldet. Dachte, sie würde
dir gefallen.«
»Da hattest du recht.« Barabbas starrte die Nadel
raffgierig an. »O ja, da hattest du wirklich recht. Du musst mich einen Moment
entschuldigen, ich möchte sie meiner Sammlung einverleiben.« Er rutschte durch
die ganze Zelle zurück und fügte die Nadel seinem Hort von Kostbarkeiten hinzu.
»Vielen Dank«, sagte er und fügte hinzu: »Ich werde sie am Tage meines Todes
tragen.«
»Das wird man dir möglicherweise nicht erlauben.
Es gibt hier strenge Regeln, was solche Dinge betrifft.«
»Ich bin sicher, Meyrick kann die nötigen
Absprachen treffen. Er ist unheimlich tüchtig in dieser Hinsicht.«
»Was ich dich schon fragen wollte: Wie hast du
Owsley eigentlich kennengelernt?«, fragte Moon.
»Er kam zu mir, suchte mich auf, um mir seine
Dienste anzubieten. Er sagte, er wäre durch das, was ich getan habe, ein
anderer geworden. Er ist, wenn ich so sagen darf, ein Bewunderer von mir.«
Barabbas warf einen ängstlich besorgten Blick auf seine Besucher. »Ihr seid
doch nicht eifersüchtig, oder?«
»Ich würde einem Mann wie ihm nicht trauen.«
»Aber du hast mir getraut«, fertigte Barabbas ihn
ab. »Also, was willst du?«
»Wir müssen reden.«
Ein Grinsen erstreckte sich quer über das ganze
talgweiße Gesicht. »Ich wusste, du würdest zurückkommen.«
»Du sprachst von einer Verschwörung gegen die
Stadt, von einer lenkenden Hand hinter den Morden. Und du wusstest vom Brand
des Theaters.«
»Und jetzt willst du wissen, wie ich das alles
erfahren habe?«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Moon
leichthin.
»Zauberei!«, antwortete Barabbas und lachte auf.
Moon hütete sich, nach dem Köder zu schnappen. »Wann
hast du den Albino zuletzt gesehen?«
Abscheu verfinsterte das Gesicht des Gefangenen.
»Ist schon Ewigkeiten her. Schiebst du ihm immer noch die Schuld zu?«
»Ich schiebe ihm die Schuld für den verderblichen
Einfluss zu, den er auf dich ausübte, jawohl!«
»Ich glaube nicht, dass ›verderblich‹ der richtige
Ausdruck ist.« Barabbas klang so angestrengt nachdenklich wie der Herausgeber
eines Wörterbuchs, der nach dem in semantischer Hinsicht perfekten Begriff
sucht. »Zum Schluss hat er mich nur mehr gelangweilt. Aber ich war in eine neue
Welt eingeführt worden – in eine Welt, die sich über alle ethischen
Grundsätze hinwegsetzt, wo ich mir nach Herzenslust nehmen konnte, was ich
wollte – jedes Erlebnis, jeden Genuss. Ich trank unmäßig und erforschte
sämtliche Bereiche aller Sünden. Und was mir letztlich als einzig sündhafte
Handlung noch blieb, war der Mord. Was ich damals in jenem Zimmer in der
Cleveland Street tat, Edward, stellte die
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