Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
Justin.
»Ich versuche gar nicht, es dir auszureden, mir wäre nur lieber, du liest zuerst etwas für deinen Bildungsweg Nützliches wie amerikanische Geschichte, wo du gerade so durchkommst.«
»Ich kriege eine Drei, Mutter; das fällt nicht unter gerade so durchkommen.«
»Mit einer Drei kommst du nicht nach Harvard. Aber darüber können wir später reden.«
Robert fand ihre Überzogenheit charmant. »Also, falls dich solche Dinge wirklich interessieren, Justin, ich habe damals am College Kabbala studiert. Du kannst mir gern bei Gelegenheit ein paar Fragen dazu stellen, wenn du magst.«
»Du hast Kabbala studiert?«, fragte Helene überrascht.
»Was ist das?«, platzte Justin überrascht hervor.
»Jüdischer Mystizismus«, antwortete Robert.
»Sie meinen, so etwas wie religiöse Hellseherei?«, wollte Justin wissen.
»Etwas in der Art. Es geht darum, Zahlen zu verwenden, um Dinge vorherzusagen, außerdem um Reinkarnation und ähnliches.«
»Ach ja, genau«, meldete sich Madeline zu Wort. »Ich habe mal etwas darüber gelesen. Heute beschäftigen sich einige Prominente damit, aber früher war das nur etwas für alte Männer.«
Robert lachte. »Na ja, zumindest für Männer mittleren Alters, aber es stimmt schon. Die Kabbala lehrt, dass nichts so ist, wie es scheint. Die Wirklichkeit verbirgt sich unter der Oberfläche, und wir müssen sie finden.«
»Also ist es so ähnlich, wie einen Mordfall zu lösen«, sagte Helene.
»Genau. In der Kabbala kommt Wörtern eine besondere Bedeutung zu. Die Mystiker lehren, dass Gott die Welt mit Worten erschaffen hat. Im Hebräischen gibt es keine Zahlen – alle Buchstaben sind zugleich Zahlen. Daher hat jedes Wort und jede Zahl der hebräischen Bibel eine versteckte Bedeutung. Und die Kabbala befasst sich mit dem Versuch, diese Bedeutung zu entschlüsseln.«
Helene überraschte es, von Roberts Interesse an Religion zu erfahren, aber sie mochte ihn trotzdem. Schließlich brachen die Kinder zu ihrer Party auf. Helene und Robert wandten sich weniger kontroversen Themen zu.
38
Justin fühlte sich gelöst wie schon lange nicht mehr. Er trank einen ausgiebigen Schluck aus einer Dose Bier und versuchte, Madeline lässig zuzulächeln. Bestimmt gab es eine funktionierende Möglichkeit, zu einem Kuss zu kommen, ihm war nur noch nicht eingefallen, wie. Die Musik war laut – zu laut für eine Unterhaltung, wofür er dankbar war. Sein Leben glich einem ständigem Kampf zwischen den ihm unablässig von seiner Mutter aufgezwungenen Gesprächen und seinem Wunsch, alleine durch eine Traumlandschaft aus Mädchen und Battle Ultimo zu wandeln.
Wenn seine Mutter ihn fragte, woran er gerade dachte, und er antwortete, an gar nichts, konnte sie nicht verstehen, dass er es ernst meinte. Aber er dachte wirklich an nichts. Seine Mutter redete andauernd davon, wie wichtig es sei, im Hier und Jetzt zu leben, von ihm hingegen wollte sie immer nur wissen, was er plante. Für Justin ergab das keinen Sinn, aber er wusste, dass es für seine Mutter umgekehrt keinen Sinn ergab, dass er nicht unbedingt jede Einzelheit seines Lebens preisgeben wollte wie einige der armen Teufel in ihrer Talkshow. Er war froh, der Gerichtsbarkeit der Verhörführerin eine Weile entronnen zu sein.
In dem Stadthaus, in dem er sich befand, drängten sich vor Hormonen strotzende Jungen und Mädchen. Letztere mit zierlichen Körpern, sich entwickelnden Brüsten und jeder Menge Lipgloss. Für die Mädchen gestaltete sich der Übergang vom Kind zur Frau einfacher. Sie brauchten lediglich Make-up aufzutragen und Stöckelschuhe anzuziehen, schon gingen sie als Sechzehnjährige durch.
Die Jungen hingegen bildeten eine unansehnliche Mischung und versuchten verzweifelt, sich in ihren neuen, ersprießenden Körpern wohlzufühlen; es half, wenn man das Glück hatte, seinen Wachstumsschub bereits hinter sich zu haben.
Die meisten besaßen noch keine oder keine nennenswerte Gesichtsbehaarung, ein paar jedoch hatten vollwertige Bärte. Justin war etwa in der Mitte einzureihen. Er begann, die Auswirkungen der Pubertät eher zu spüren , als zu sehen, und wie jeder andere Junge im Raum hoffte er, in dieser Nacht auf einem mit Daunen gefüllten, antiken Sofa zu Zärtlichkeiten zu kommen.
Trübes Kerzenlicht erhellte den Raum. Er konnte kaum erkennen, was wenige Meter von ihm entfernt geschah, was durchaus beabsichtigt war. Hier konnte man selbst in der Masse unter sich sein. Alle ließen den Dampf ab, der sich durch den
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