Das also ist mein Leben - Chbosky, S: Das also ist mein Leben - The Perks of Being a Wallflower
hat und gesprächig wird. Dann beschwert er sich, dass immer mehr Schwarze in die alten Viertel der Stadt ziehen, und meine Schwester regt sich furchtbar über ihn auf, und mein Großvater sagt, dass sie nicht weiß, wovon sie redet, weil sie ja hier in einem Vorort wohnt. Und dann behauptet er, dass ihn niemand im Altenheim besucht. Und schließlich fängt er an, die ganzen Familiengeheimnisse auszuplaudern, zum Beispiel wie damals Cousin Soundso dieser Kellnerin im Big Boy »einen Braten in die Röhre geschoben« hat. Ich sollte erwähnen, dass mein Großvater nicht mehr so gut hört, deshalb erzählt er diese Sachen ziemlich laut.
Meine Schwester versucht jedes Mal, es mit ihm aufzunehmen, aber sie gewinnt nie. Mein Großvater ist definitiv sturer als sie. Mom hilft für gewöhnlich ihrer Tante, das Essen zu machen, das mein Großvater immer »zu trocken« findet, selbst wenn es Suppe ist. Und Moms Tante weint dann immer und schließt sich im Badezimmer ein.
Es gibt nur ein Bad im Haus meiner Großtante, und das wird zum Problem, wenn bei meinen Cousins das Bier zu wirken beginnt. Dann stehen sie verkrampft und x-beinig vor der Badezimmertür und hämmern dagegen, bis sie meine Großtante beinahe so weit haben, dass sie wieder herauskommt. Doch dann flucht mein Großvater erneut
über irgendetwas, und das Spiel beginnt wieder von vorn. Mit Ausnahme dieses einen Thanksgivings, als mein Großvater direkt nach dem Essen umgekippt ist, mussten meine Cousins immer in die Büsche pinkeln. Ich sehe sie dann durch das Fenster, und es sieht aus, als ob sie auf einem ihrer Jagdausflüge wären. Für meine Cousinen und meine anderen Großtanten tut es mir allerdings echt leid, weil sie ja schlecht auch die Büsche benutzen können, vor allem, wenn es sehr kalt ist.
Vielleicht sollte ich noch sagen, dass mein Vater an Thanksgiving die meiste Zeit schweigend am Tisch sitzt und trinkt. Eigentlich trinkt Dad nie besonders viel, aber wenn er die Feiertage mit Moms Familie verbringen muss, lässt er sich »volllaufen«, wie mein Cousin Tommy es ausdrückt. Ich glaube, mein Vater würde die Feiertage viel lieber mit seiner eigenen Familie in Ohio verbringen. So könnte er auch meinem Großvater aus dem Weg gehen. Er mag meinen Großvater nämlich nicht sehr, aber das sagt er nie so. Auch nicht auf dem Heimweg. Er denkt wohl, dass ihm das nicht zusteht.
Wenn das Fest zu Ende geht, ist mein Großvater meistens zu betrunken, um noch überhaupt irgendetwas zu tun. Dad und mein Bruder und meine Cousins tragen ihn dann raus zum Auto desjenigen, der am wenigsten sauer auf ihn ist. Meine Aufgabe dabei ist, ihnen die Türen aufzuhalten. Mein Großvater ist ziemlich dick.
Einmal hat mein Bruder meinen Großvater zurück ins Altenheim gebracht, und ich bin mitgefahren. Mein Bruder hat meinen Großvater immer verstanden. Er war fast nie sauer auf ihn, außer mein Großvater hatte etwas Gemeines
über meine Mutter oder meine Schwester gesagt oder vor allen Leuten eine Szene gemacht. Ich weiß noch, dass es damals stark geschneit hat und sehr still war, beinahe friedlich. Und mein Großvater hat sich etwas beruhigt und auf einmal ganz anders mit uns geredet.
Er erzählte uns, wie er mit sechzehn die Schule verlassen hatte, weil sein Vater gestorben war und jemand die Familie ernähren musste. Und wie er damals dreimal am Tag in die Fabrik ging, um nach Arbeit zu fragen. Und wie kalt es war. Und wie hungrig er war, weil er immer erst die Familie essen ließ. Und wir würden das nie verstehen, weil wir keine Ahnung von einem solchen Leben hätten. Und dann sprach er über seine Töchter, über Mom und Tante Helen.
»Ich weiß genau, was eure Mutter von mir hält. Und Helen – das weiß ich auch ganz genau. Einmal, da bin ich wieder zur Fabrik … Keine Arbeit, nichts … Um zwei Uhr morgens bin ich heimgekommen, völlig fertig … Deine Großmutter hat mir die Zeugnisse der beiden gezeigt … Eine Drei im Durchschnitt, und dabei waren es schlaue Mädchen … Also bin ich auf ihr Zimmer und hab ihnen etwas Verstand eingebläut … Und als das erledigt war und beide heulten, hab ich ihre Zeugnisse hochgehalten und gesagt: ›Das kommt mir nie wieder vor!‹ … Sie redet heute noch davon, deine Mutter … Aber wisst ihr was? Es ist nie wieder vorgekommen … Sie sind aufs College, alle beide … Ich wünschte, ich hätte es ihnen zahlen können … Ich wünschte, Helen hätte das alles kapiert … Eure Mutter hat es kapiert, glaube ich …
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