Das also ist mein Leben - Chbosky, S: Das also ist mein Leben - The Perks of Being a Wallflower
sich von ihrem »Freund«. Sie nahm ab, ohne dass sie irgendwelche Diäten einhielt. Sie kümmerte sich um uns, sodass meine Eltern ausgehen und etwas trinken und Brettspiele spielen konnten. Sie ließ uns lang aufbleiben. Sie war die Einzige außer Mom und Dad und meinem Bruder und meiner Schwester, die mir immer zwei Geschenke
kaufte: eines zu meinem Geburtstag, eines zu Weihnachten. Auch als sie bei uns wohnte und kein Geld hatte. Sie kaufte mir immer zwei Geschenke. Und es waren immer die besten Geschenke.
Und dann, am 24. Dezember 1982, stand ein Polizist vor unserer Tür. Es hatte stark geschneit, und Tante Helen hatte einen furchtbaren Unfall gehabt, und der Polizist sagte meiner Mutter, Tante Helen hätte den Unfall nicht überlebt. Er war ein sehr netter Mensch, denn als meine Mutter in Tränen ausbrach, sagte er ihr, dass der Unfall sehr schlimm gewesen sei. Und Tante Helen sei bestimmt gleich tot gewesen. Sie hatte also keine Schmerzen gehabt. Tante Helen hatte keine Schmerzen mehr …
Der Polizist bat Mom, mitzukommen und die Leiche zu identifizieren. Dad war noch im Büro. In diesem Moment kamen mein Bruder, meine Schwester und ich zur Tür. Wir alle trugen Partyhüte – Mom wollte immer, dass sich meine Schwester und mein Bruder auch welche aufsetzten. Meine Schwester sah Mom weinen und fragte sie, was geschehen sei, doch Mom brachte kein Wort heraus. Also ließ sich der Polizist auf die Knie nieder und erzählte uns, was geschehen war. Mein Bruder und meine Schwester weinten. Ich weinte nicht. Ich war mir absolut sicher, dass es sich hier um einen Irrtum handelte.
Mom bat meinen Bruder und meine Schwester, sich um mich zu kümmern, und dann ging sie mit dem Polizisten mit. Ich glaube, wir sahen fern, aber ich bin mir wirklich nicht sicher. Jedenfalls kam Dad nach Hause, bevor Mom wieder zurück war.
»Was macht ihr denn für lange Gesichter?«
Wir sagten es ihm. Er weinte nicht. Er fragte aber, ob es uns gut ginge. Mein Bruder und meine Schwester sagten Nein. Ich sagte Ja. Der Polizist hatte sich doch nur geirrt. Es schneite so stark draußen – wer sollte da noch etwas richtig erkennen … Dann kam meine Mutter nach Hause. Sie weinte. Und sie sah meinen Vater an und nickte. Dad legte die Arme um sie. In diesem Moment begriff ich, dass sich der Polizist nicht geirrt hatte.
Ich weiß nicht mehr genau, was als Nächstes geschehen ist, und ich habe auch nie danach gefragt. Ich erinnere mich daran, dass wir in die Klinik fuhren. Ich erinnere mich daran, dass ich in einem Zimmer mit hellem Licht saß. Ich erinnere mich an einen Arzt, der mir Fragen stellte und dem ich erzählte, dass Tante Helen die Einzige gewesen war, die mich immer in den Arm genommen hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich mit meiner Familie am ersten Weihnachtsfeiertag in einem Wartezimmer saß. Und ich erinnere mich daran, dass ich nicht auf die Beerdigung durfte. Und dass ich Tante Helen nie Lebewohl sagen konnte.
Ich weiß auch nicht mehr, wie lange ich zu dem Arzt musste. Und wie lange sie mich von der Schule nahmen. Ich weiß nur, dass es ziemlich lange war. Das Einzige, woran ich mich ganz genau erinnere, ist der Tag, ab dem es mir wieder besser ging, denn an diesem Tag fiel mir wieder ein, was Tante Helen zu mir gesagt hatte, ehe sie im Schnee verschwunden war.
Sie zog sich ihren Mantel an, und ich reichte ihr die Autoschlüssel, weil ich immer wusste, wo sie waren. Ich fragte sie, wohin sie fuhr. Sie sagte, das sei ein Geheimnis,
doch ich fragte immer wieder, und Tante Helen mochte das – sie mochte es, wenn ich ihr Löcher in den Bauch fragte. Nach einer Weile schüttelte sie lächelnd den Kopf und flüsterte mir ins Ohr:
»Ich gehe dein Geburtstagsgeschenk kaufen.«
Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Und ich stelle mir vor, dass Tante Helen jetzt diesen guten Job hat, für den sie immer gelernt hat. Und dass sie einen netten Mann kennengelernt hat. Und dass sie ohne Diät all die Pfunde losgeworden ist, die sie immer loswerden wollte.
Egal, was mir meine Mutter und mein Arzt und mein Vater über Schuld erzählt haben, eines weiß ich ganz sicher: Ich weiß, dass Tante Helen heute noch am Leben wäre, wenn sie mir nur ein Geschenk gekauft hätte, so wie die anderen. Und sie wäre heute noch am Leben, wenn ich nicht im tiefsten Winter geboren worden wäre … Ich wünschte, das wäre alles anders gewesen. Ich vermisse sie so sehr. Und jetzt muss ich mit Schreiben aufhören – ich bin einfach zu
Weitere Kostenlose Bücher