Das alte Haus am Meer
da drüben bei der Tür hat sie gestanden und über die Schulter zurückgesehen und gesagt: ›Warum sollte ich spät kommen?‹ Und dann habe ich sie nie mehr gesehen.« Sie rieb sich heftig die Augen, schnauzte sich und fasste Dale am Ärmel. »Mr Jerningham, die kriegen ihn doch, diesen Pell, oder?«
»Das denke ich doch«, sagte Dale. »Aber wissen Sie, Miss Cole, Sie dürfen sich nicht darauf versteifen, dass er etwas damit zu tun hat. Vielleicht ist sie gestürzt.«
Ihr Griff wurde fester. Sie hörte auf zu weinen und sagte verärgert:
»Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, dass Cissie sich die Klippen hinabgestürzt hat? Dazu gab es keinen Grund, Mr Jerningham, sie war ein anständiges Mädchen, die Cissie, und ich lasse nichts auf sie kommen. Er hat sie in sich verliebt gemacht, dieser Pell, aber mehr war nicht. Ich will nicht sagen, dass sie nicht unglücklich war, aber sie hatte keinen Grund sich von den Klippen zu stürzen. Immer war er hinter ihr her, dieser Pell, und als er nicht kriegen konnte, was er wollte, da hat er sie runtergestoßen. Ich habe von genau so einer Geschichte gehört, als Mädchen, als ich meine Oma drüben in Ledstock besucht habe. In einen Weiher hat er sie gestoßen, dieser Mann, weil sie nicht nachgegeben hat. Und das hat Pell mit der armen Cissie auch gemacht, so war’s und nicht anders. Ich will nur, dass die Polizei ihn kriegt.« Sie wandte sich an Lisle und fing wieder an zu weinen. »Sie sind so freundlich, Sie und Mr Jerningham, bitte entschuldigen Sie mich. Ich darf sie nicht einmal hier haben, erst nach der Verhandlung. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass einer aus unserer Familie mal ein Fall für die Polizei wird. Ein Herr vom Ledlingtoner Anzeiger ist hier gewesen, der wollte ein Foto von ihr. Da habe ich ihm den Schnappschuss gegeben, den Mr Rafe beim Kirchenfest im Juni von ihr und mir gemacht hat. Es war das schönste Foto von Cissie, deshalb habe ich es dem Herrn gegeben. Was für gute Fotos Mr Rafe macht, dabei ist der Fotoapparat nur so groß wie seine Hand. Oh, Mrs Jerningham, ich darf gar nicht an das Fest denken und wie wir uns alle amüsiert haben. Sie sind so freundlich, Sie und Mr Jerningham.«
Lisle wusste wenig zu sagen. Sie hielt Miss Coles Hand und sagte ab und zu ein paar leise Worte zu ihr. Traurig dachte sie daran, was für eine einsame Zukunft vor der armen Alten lag, nun da Cissie nicht mehr war. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie Miss Cole zum Abschied küsste.
Auf dem Heimweg sagte Dale in seltsamem Ton:
»Du hast ihr gut getan.«
»Ich habe doch gar nichts getan. Sie tut mir so Leid.«
»Genau das hat ihr geholfen. Du hast sie reden lassen, sie bemitleidet und sie zum Abschied geküsst. Es war alles genau richtig.«
War es das? Lisle bezweifelte es. Nichts war mehr richtig.
Alles war konfus, schwierig und unerträglich, aber es musste ertragen werden.
Schweigend gingen sie nach Hause. Kurz vor dem Schloss legte Dale ihr die Hand auf die Schulter.
»Danke, Liebling«, sagte er.
25
Lisle ging früh nach oben und zu Bett. Schon während des Abendessens und der ganzen zäh verrinnenden Zeit danach hatte sie daran gedacht, was für eine Wohltat es wäre, nach oben in ihr eigenes Zimmer zu gehen. Doch als sie dann dort war und die Türen hinter sich abgeschlossen hatte, da stellte sie fest, dass sie zwar einer Generation von Jerninghams entkommen war, sich aber nun umzingelt fand von all den anderen, bereits verstorbenen Generationen. Sie hatte ja nie das Gefühl gehabt, dass es wirklich ihr Zimmer war, aber nie zuvor war ihr mit solcher Klarheit bewusst gewesen, nur ein vorübergehender Gast zu sein an diesem Ort, wo schon so viele andere gelebt, geherrscht und eine vergängliche Rolle gespielt hatten.
Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Alles im Raum wirkte alt und muffig. Der Teppich, die altmodischen Tapeten, die Vorhänge, die schweren Möbel; all das schuf eine atembeklemmende Atmosphäre.
Sie zog sich rasch aus und öffnete die Vorhänge. Sofort drang die Nacht ins Zimmer – das silberne Mondlicht und eine frische Brise vom Meer. Sie schlug die Bettdecke zurück und deckte sich nur mit einem Leintuch zu. Dann stützte sie sich auf den Ellbogen und sah hinaus auf die Baumspitzen unterhalb des italienischen Gartens und auf das geheimnisvolle Glitzern des entfernten Meeres. Sie war am Ende ihrer Kraft. Sie konnte nicht mehr denken. Seit dem Augenblick, als sie den Termin bei Miss Maud Silver vereinbart hatte, war sie in
Weitere Kostenlose Bücher