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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wentworth
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einem ständigen inneren Konflikt. Unentwegt war der schreckliche Gedanke gekommen und gegangen. Er war so unerträglich, dass sie ihn verscheuchte, aber sobald er verschwunden war, graute ihr so sehr davor, dass ihr ganzes Bewusstsein wie erstarrt war und nur darauf wartete, dass die Schreckensvision wieder auftauchte. Aber jetzt war das alles vorbei. Im Augenblick jedenfalls hatte die Anspannung nachgelassen. Die Gedanken kamen zum Stillstand, und aus der ganzen Verwirrung tauchte eine Gewissheit auf: Dale hatte sie gebeten, ihm zu helfen, und sie hatte ja gesagt. Jetzt konnte sie sich nicht mehr mit Miss Silver treffen. Sie musste am Morgen nach Ledlington fahren und sie anrufen. Gründe brauchte sie nicht zu nennen. Sich einfach entschuldigen und sagen, sie könne leider nicht kommen. Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht. Sie konnte Miss Silver einfach nicht treffen, weil Dale sie um Hilfe gebeten und sie ja gesagt hatte. Sie konnte Miss Silver nicht treffen, weil es Dale verletzen könnte. Es würde ihm nicht helfen. Es würde ihm schaden.
    Sie schlief ein und hatte wirre Träume. Sie war in einem Flugzeug; die Motoren dröhnten, und der Wind blies wie ein Orkan. Alle Winde der Welt rasten vorbei, und die Wolken waren wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht, während sie schnell wie der Blitz vorbeiflog. Und da war kein Pilot. Sie war ganz allein …
    Der Traum war vorbei. Zwischen Schlaf und Erwachen sah sie den Mond, drehte sich um und glitt in den nächsten Traum. Da war ein Ort ohne eine Menschenseele. Nicht einmal Lisle selbst war da. Es war das schreckliche Zentrum der Einsamkeit, der Ort, wo man alles verlor, auch sich selbst. Sie schrie auf und erwachte schweißgebadet.
    Als sie sich zugedeckt hatte, schlief sie wieder ein und träumte, sie ginge in dem Teil des Gartens, den sie am meisten mochte, spazieren. Es war ein schöner Abend kurz vor Sonnenuntergang. Über ein paar noch nie gesehene Stufen geriet sie ans Meerufer, an einen ihr unbekannten Strand. Dort verlief ein gerader, fester Pfad aus goldenem Sand. Die Sonne stand niedrig über dem Meer. Alles war sehr still und friedlich. Es war Ebbe. Es hätte ein glücklicher Traum sein können, aber auf ihrem Herzen lag eine schreckliche Last. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Es waren die Fußstapfen im Sande der Zeit. Sie waren unentrinnbar, unveränderbar und unwiderruflich. Keine noch so große Anstrengung hätte es ihr ermöglicht, den Kopf zu wenden oder zurückzugehen oder auch nur einfach nicht weiterzugehen.
    Und dann sah sie den Felsen. Er blockierte ihr den Weg, und die Sonne war hinter ihm verschwunden. Er war so hoch wie Tane Head. Plötzlich war es Tane Head, und am Fuß der Klippen lag Cissie Cole zerschmettert und Lisles Jacke bedeckte sie. Die Schritte kamen näher und hielten an; denn sie waren am Ziel. Lisle blickte auf die Jacke hinunter. Sie bückte sich und zog sie ein wenig von dem verborgenen Gesicht fort. Und es war nicht Cissie Cole, die dort tot lag – es war Lisle Jerningham … Jemand streckte eine Hand aus und berührte sie …
    Sie erwachte. Das Zimmer war dunkel. Sie wusste nicht, wo links oder rechts, oben oder unten war. Irgendwo im Haus war Bewegung. Eine Tür wurde geschlossen. Ihr Orientierungssinn kehrte zurück. Sie stand auf und trat an das rechte Fenster. Vom Meer war Nebel aufgezogen und hatte sich vor den Mond geschoben. Sie sah nichts außer einem Vorhang aus Nebel. So stand sie lange und blickte hinaus.
    26

    Als sie am nächsten Morgen aufstand, war es immer noch neblig. Dale hatte bereits gefrühstückt und war gegangen. Alicia rauchte und nippte an einem Glas Orangensaft. Als Gruß wedelte sie mit ihrer Zigarette, die ein seltsames Gekrakel in der Luft hinterließ und sagte mit süßer Stimme:
    »Dale sagt, er hat dir also schon mitgeteilt, dass wir Busenfreundinnen sind? Er hat furchtbare Angst auch nur vor dem Hauch eines Skandals, was? Mir persönlich ist das egal, aber Männer sind ja so prüde. Und wie ich dem attraktiven Polizisten gesagt habe: Dale ist eben ein Feudalherr. Für ihn spielt es tatsächlich eine Rolle, was all die Coles und Crisps und Coopers im Dorf sagen. Und für dich?«
    Lisle goss sich eine Tasse Kaffe ein. Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: »Ich weiß nicht.«
»Was soll das denn heißen, meine Liebe?«
Lisle stellte die Kaffeekanne ab.
    »Es wäre mir nicht recht, wenn Dale im Dorf ins Gerede käme. Wenn das Gerede stimmte, würde es uns allen schaden, und wenn

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