Das alte Haus am Meer
unbeschwert wie möglich: »Ist das so?«, und Alicia lachte erneut.
»Natürlich ist es so. Er ist kalt wie ein Fisch. Nein, ich glaube, Fische sind kein guter Vergleich, die sind, glaube ich, sehr liebevoll.«
»Versuch’s mal mit Schlange«, schlug Rafe vor. »Das würde mir gefallen. ›Seine Seele hüllt er in Schlangenhaut, und knöpfet sie zu, und schließet sie fest …‹ Original und aus dem Stegreif von Rafe Jerningham. Was sie aber wirklich meint, Zuckerpüppchen: Gib mir auf keinen Fall den kleinen Finger, ich könnte die ganze Hand nehmen, und fahr nie und nimmer mit mir nach Ledlington, denn das kreuzt sich mit ihren eigenen Plänen für diesen Vormittag.«
»Ich gehe und mache mich fertig«, sagte Lisle.
Der Nebel begann sich aufzulösen, als sie die Straße nach Ledlington erreichten. Es wurde langsam warm, und die noch leicht verschleierte Sonne ließ vermuten, dass es heiß werden würde. Unvermittelt sagte sie:
»Warum sagt Alicia solche Sachen?«
Rafe warf ihr einen schnellen, rätselhaften Blick zu.
»Weißt du es nicht?«
»Nein, ich glaube nicht. Sie klang so verärgert.«
»Und wie verärgert sie war.«
»Warum?«
Er zuckte die Schultern.
»Warum sind alle verärgert?«
Sie beließ es dabei. Wollte sich nicht auf unsicheres Terrain begeben. Sie lehnte sich zurück und schwieg bis Ledlington. Nach einer Weile fand sie die Stille wohltuend.
»Wohin möchtest du?«
Sie waren jetzt bei den ersten Häusern angelangt. Vereinzelt waren sie der Stadt vorgelagert, roh und neu, mit leuchtenden Fliesen, noch nicht angelegten Gärten, bunten Vorhängen und Namen wie Daheim und Mein Zuhause.
»Oh, in die Hauptstraße, zu Ashley’s. Es dauert nicht lange.«
Sie hörte ihn lachen.
»Wie doch die Frauen lügen! Wir sehen uns dann also, wenn wir uns sehen. Habe ich Zeit, mir die Haare schneiden zu lassen?«
»O ja.«
»Wahrscheinlich mehrmals. Lass dir Zeit.«
Lisle ging nach oben in den Ruheraum. Ashley’s hielt für seine Kundinnen jeglichen Komfort bereit. Man war eingerichtet für die Damen vom Land, die einen Tag in der Stadt verbrachten, morgens einkaufen gingen und nachmittags Besuche machten. Hier konnte man sich die Haare waschen und legen lassen, es gab kosmetische Behandlungen, man konnte sich in einem der bequemen Sessel ausruhen und in den neuesten Zeitschriften blättern, und man konnte von einer Telefonzelle aus ungestört Freunde anrufen.
Das war der Grund, warum Lisle zu Ashley’s wollte. Sie betrat die Telefonzelle, schloss sorgfältig die Tür hinter sich und verlangte eine Nummer in London. In Ledlington gab es noch keine Durchwahlmöglichkeit. Und niemanden schien das zu stören.
Lisle wartete auf ihre Verbindung und war froh, dass es hier so leer war. Durch den Bogen hindurch sah sie eine Angestellte, die in der Garderobe einen Spiegel über einem der Waschbecken putzte. Sonst war niemand zu sehen.
Die Stimme der Vermittlung sagte: »Ihr Gespräch«, und nach einem Klicken war die resolute, zuverlässige Stimme von Miss Maud Silver zu hören.
»Hallo.«
Seltsam, wie ein einziges Wort Lisle wieder in den Zug zurückversetzte und sie wieder die plumpe Gestalt in graubraunem Schantung mit dem braunen Hut und den Stiefmütterchen vor sich sah. Sie brauchte nicht zu fragen, wer am Apparat war.
»Miss Silver, hier ist Lisle Jerningham. Ich kann heute nicht zu Ihnen kommen. Ich musste meine Pläne ändern.«
Sie hörte ein leises Hüsteln.
»Du meine Güte, das ist schade, wirklich sehr schade. Sind Sie sicher, dass Sie es nicht irgendwie einrichten können?«
Lisle antwortete: »Ganz sicher«, ohne zu ahnen, wie ihre Worte bei Miss Silver ankamen.
Die resolute Miss Silver sagte wieder: »Du meine Güte«, und dann, »könnten Sie vielleicht morgen kommen?«
Lisle hätte so gerne ja gesagt, dass sie zu zittern begann. Sie wollte ja sagen, aber sie durfte es nicht. Sie musste nein sagen. Sie sagte es mit kaum hörbarer Stimme, verabschiedete sich und legte den Hörer auf, bevor sie in Versuchung geraten konnte, mehr zu sagen. Dann ging sie schnell zum Wagen zurück, setzte sich hinein und wartete auf Rafe. Sie musste eine ganze Weile warten.
Als er kam, begann ihr Herz plötzlich schneller zu schlagen. Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas passiert war und fragte sich zugleich, wie sie bloß darauf kam, denn er lächelte und sah aus wie immer. Aber als sie die Hauptstraße hinter sich gelassen hatten und aus der Stadt hinausfuhren, sagte er ganz nebenbei:
»Sie haben Pell.«
Warum sollte
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