Das alte Haus am Meer
vergangen waren.
Auf dem Kaminsims schlug eine kleine mit hölzernen Edelweißen verzierte Uhr, die zwischen den gerahmten Fotos kaum zu sehen war, die halbe Stunde. Miss Silver legte das Schreibheft zurück in die Schublade, aus der sie es geholt hatte, legte Ethels Pullover vorsichtig auf die linke Seite des Schreibtisches, reckte sich in ihrem Stuhl und wählte ein Ferngespräch. Es dauerte eine kleine Weile, während der ihre Gedanken weiter arbeiteten. Dann ein Klicken und eine kräftige Bass-Stimme, die sagte:
»Polizeistation, Ledlington.«
Miss Silver räusperte sich und sagte förmlich:
»Danke. Guten Morgen. Ich möchte gerne Inspektor
March sprechen.«
»Wen darf ich bitte melden?«
»Miss Maud Silver.«
Die tiefe Stimme schien zu extrem schweren Stiefeln zu
gehören. Man konnte hören, wie sie sich gemessenen Schrittes entfernten. Nach einer weiteren Pause dann leichtere Schritte und eine bekannte Stimme:
»Miss Silver? Wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?«
Miss Silvers Hüsteln schwirrte durch die Leitung. Es versetzte Randal March weit zurück in ein Klassenzimmer, wo ein kleiner, tintenverschmierter Junge und zwei wesentlich reinlichere kleine Mädchen lesen, schreiben und rechnen lernten bei einer Miss Silver, die damals zwar viel jünger gewesen sein musste als heute, sich aber im Laufe der Zeit anscheinend überhaupt nicht verändert hatte. Freundlich, unmodern, korrekt, intelligent
– o ja, sehr intelligent – und resolut. So war Miss Silver vor siebenundzwanzig Jahren gewesen, und so war sie noch heute. Sie hatten immer den Kontakt gehalten, seine Mutter, seine Schwestern und in großen Abständen auch er. Seit kurzem allerdings hatten sie wieder engeren Kontakt, denn er war gerade erst von Matchley nach Ledlington versetzt worden, und in Matchley war der grauenhafte Fall mit den vergifteten Käfern aufgeklärt worden. Wäre Miss Silver nicht gewesen, dann läge er heute sehr wahrscheinlich in seinem Familiengrab anstatt mit dankbarer Aufmerksamkeit ihren Antworten auf seine Fragen zu lauschen.
»Danke, Randal, mir geht es gut. Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt. Ledlington ist ein reizendes, altmodisches Städtchen. Auch wenn die neueren Häuser den Eindruck etwas verderben.«
»Was will sie nur?«, überlegte Randal March. »Sie ruft doch nicht an, um mit mir über Architektur zu reden. Was hat sie vor?«
»Ich hoffe, Ihre liebe Mutter ist gesund und munter?«, fuhr Miss Silver fort.
»O ja, sehr. Die wird und wird nicht älter.«
»Und die liebe Margaret und Isabel?«
»Bestens.«
»Bitte grüßen Sie sie von mir, wenn Sie ihnen schreiben. Und wir zwei werden uns in Kürze sehen.«
»Ach, tatsächlich?« Das sagte er nicht laut, aber er grinste.
Miss Silver fuhr fort:
»Ich dachte daran, auf einen kurzen Urlaub nach Ledlington zu kommen.«
»Urlaub?«, fragte Randal ernst.
»Ich denke schon. Und ich rufe an, weil ich dachte, Sie könnten mir vielleicht eine ruhige Pension empfehlen, nicht zu teuer. Ich bin sicher, Sie wissen das Richtige für mich.«
»Nun, ich weiß nicht …«
»Ich komme heute Nachmittag. Wenn Sie so freundlich wären, sich nach einer Pension zu erkundigen …«
»Aber natürlich …«
»Ich komme dann auf der Polizeistation vorbei, und wenn Sie nicht da sind, könnten Sie mir eine Nachricht hinterlassen.«
Inspektor March willigte ein. Er legte auf und fragte sich, was Miss Silver wohl aufgespürt hatte. Es konnte doch wohl nicht der Fall Cole sein, oder doch? Er spürte ein Kribbeln im Magen. Wenn Maud Silver nach Ledlington kam, dann weil sie die Nase auf irgendeiner Spur hatte. All das Gerede über Urlaub und »Ihre liebe Mutter, die liebe Margaret und Isabel« und über eine nette Pension war nur Tarnung. Sie hatte ja gerade erst Urlaub bei ihrer Nichte Ethel gemacht. Und sie wusste sehr wohl, dass ihm das bekannt war. Ihm streute sie keinen Sand in die Augen. Er kannte seine Miss Silver.
Er ging los, sich nach Pensionen zu erkundigen.
28
Die gerichtliche Untersuchung fand am nächsten Tag im Gemeindesaal statt. Das ganze Dorf war anwesend. Miss Cole in Schwarz zwischen ihrem Bruder James und seiner dicken, aufgelösten Frau. Die Bewohner von Schloss Tanfield. Ein in seiner Bedeutung schweigender William, weil er Cissie als Letzter lebendig gesehen hatte – mit Ausnahme von Pell, den er und alle anderen bereits den Mörder nannten. Inspektor March, straff und konzentriert. Als Vorsitzender des Geschworenengerichts der alte Doktor William Creek,
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