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Das alte Haus am Meer

Das alte Haus am Meer

Titel: Das alte Haus am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wentworth
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sie davon Herzklopfen bekommen? Aber es war so. Sie erkundigte sich:
»Woher weißt du das?«
»Ich habe March getroffen. Morgen ist die Verhandlung.«
Lisle lehnte sich zurück und schloss die Augen. Der Nebel war verschwunden. Die feuchte Straße glänzte in der Sonne. Sie hatte Herzklopfen. Dann fragte sie:
»Hat er es getan – Pell? Hat er Cissie die Klippen hinabgestoßen?«
Rafe gab Gas. Die neuen Häuser flogen an ihnen vorbei und waren verschwunden. Die grünen Felder flogen vorbei. Er sagte leichthin:
»Das müssen die Geschworenen entscheiden. Er schwört, es nicht getan zu haben.«
    27

    Miss Silver legte den Hörer auf und nahm ihr Strickzeug zur Hand. Sie strickte an einem blauen Pullover mit kompliziertem, von ihr selbst entworfenem Muster für ihre Nichte Ethel. Zwei links, zwei rechts, eine abheben, zwei links … Es war absolut notwendig, sich ganz auf diesen Teil des Musters zu konzentrieren. Doch nach etwa zehn Minuten wurde das Klappern der Nadeln langsamer, die blassen, rundlichen Hände ruhten auf der blauen Wolle. Es war immer ärgerlich, wenn ein Klient einen Termin absagte – ärgerlich und unbefriedigend. Ein Zeichen für Unentschlossenheit, das war sicher. Bei einem instabilen Charakter war Unentschlossenheit zu erwarten. Bei manchen Menschen rief eine impulsive Entscheidung Reue hervor, und die Entscheidung wurde dann rückgängig gemacht. Ein anderer Grund konnte Angst sein. Die junge Frau, mit der sie sich im Zug unterhalten hatte, war verschreckt und verzweifelt gewesen. Hätten sie sich damals sofort verabredet, es hätte Miss Silver nicht im Geringsten überrascht, wenn der Termin später abgesagt worden wäre, nachdem die junge Frau Zeit zum Nachdenken hatte. Aber es hatte ja genügend Zeit zum Nachdenken bestanden, als die Verabredung dann getroffen wurde, und zwar dringend getroffen unter dem Druck von Notwendigkeit und Angst. Der Termin war vereinbart und nun rückgängig gemacht worden. Wenn der Grund für den Termin Angst gewesen war, dann bestand dieser Grund noch. Die Stimme, die den Termin abgesagt hatte, hatte vor Angst gezittert. Die junge Frau am Telefon hatte sich geradezu vor ihrer eigenen Stimme gefürchtet. Sie hatte Angst gehabt, zu viel zu sagen. Sie hatten nicht einmal die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht. Dabei verfügte Mrs Dale Jerningham über eine gute Erziehung. Hätte sie nicht solche Angst gehabt, dann hätte sie die Absage mit Bedauern und einer Entschuldigung verbrämt. Nichts davon hatte sie getan. In ihren Gedanken war für nichts anderes Raum gewesen als für ihre Angst und für Eile.
    Miss Silver dachte lange über diese Aspekte nach. Dann holte sie aus einer Schublade zu ihrer Rechten ein hellblaues Heft mit glänzendem Einband. Aufgeschlagen auf dem bequemen Hügel von Ethels Pullover, gab es unter der Überschrift »Mrs Dale Jerningham« das Gespräch mit Lisle im Zug wieder. Daneben lagen noch einige Zeitungsausschnitte, denen Miss Silver nun besondere Aufmerksamkeit widmete. Im Zimmer um sie herum war es still.
    Es war eine freundliche viktorianische Wohnung mit einem bunt geblümten Brüsseler Teppich und Plüschvorhängen in einem äußerst heiteren Pfauenblau. Vor dem leeren Kamin stand ein Kaminschirm, dessen Rahmen aus dem gleichen gelblichen Walnussholz war wie der Schreibtisch und bedauerlicherweise mit denselben überladenen Schnitzarbeiten versehen. Die Vorderseite des Kaminschirms bestand aus olivgrünem Tuch, das mit Mohnblumen und Kornblumen bestickt war. Davor lag ein schwarzer Wollteppich. Auf dem Kaminsims stand eine Reihe von silber gerahmten Fotografien, und darüber, auf der Blumentapete, hing ein Stahlstich von Millais’ »Rettung« in einem gelben Ahornrahmen. Ähnliche Stiche zierten die anderen Wände: »Bubbles«, »Die Erweckung der Seele« und Landseers »Monarch des Glen«. Zu beiden Seiten des Kamins standen seltsame altmodische Stühle mit verschwenderisch geschnitzten geschwungenen Beinen, gepolsterten Sitzen und taillierten Rückenlehnen.
    Miss Silver selbst – ordentlich, graubraun gekleidet und ältlich, das Haar zu einem Knoten gebunden, in der Stirn ein gelockter Pony – passte perfekt in diese Umgebung. Der einzige Missklang war das Telefon, das völlig unpassend auf der verblichenen grünen Lederschreibunterlage stand. Neu, nüchtern, glänzend, ohne Kurven, Farbe oder Schnitzerei, legte es Zeugnis ab, dass seit der Zeit, in der Königin Viktoria gelebt hatte und gestorben war, fast vier Jahrzehnte

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