Das alte Haus am Meer
der Cissie schon auf die Welt befördert hatte und über fast jeden Anwesenden so gut wie alles wusste. Pell, der neben einem stoischen jungen Polizisten saß, unglaublich zerzaust, bleich und unrasiert mit rot geränderten Augen und vorgeschobenem, trotzigem Kinn. Er saß da und beachtete niemanden. Ab und zu gähnte er, so dass man seine gelben Zähne sah.
Miss Silver in der dritten Reihe ging es nicht zum ersten Mal in ihrem Berufsleben durch den Kopf, dass junge Frauen sich doch wirklich in die außergewöhnlichsten Leute verliebten. Neben ihr flüsterte eine Frau empört: »Seht ihn euch an, wie er da sitzt und gähnt! Es kümmert ihn überhaupt nicht, was er dem armen Mädchen angetan hat. Aber so leicht kommt er nicht davon. Ein richtiges Mördergesicht hat der!« Jemand sagte: »Pst!«
Miss Silver beobachtete Pells linke Hand. Sie krallte sich so fest um den Rand der Bank, auf der er saß, dass es aussah, als würden die Knöchel die Haut zum Platzen bringen. Die ganze Hand war weiß, angespannt, ein stummes Zeugnis des verzweifelten Gemüts des Mannes. Dann blickte sie wieder in sein teilnahmsloses Gesicht.
Als Nächstes betrachtete sie die Gruppe von Tanfield. Nach einer Weile beugte sie sich zu der neben ihr sitzenden Frau und erkundigte sich nach einem einleitenden Hüsteln, welcher der beiden Herren Mr Dale Jerningham sei. Als sie die geflüsterte Antwort erhalten hatte, lehnte sie sich wieder zurück und nahm ihre Beobachtungen wieder auf. Ein gut aussehender Mann, keine Frage. Er und Mrs Jerningham waren ein sehr attraktives Paar. Auch wenn attraktiv kaum das richtige Wort war, um jemanden zu beschreiben, der so zart und lieblich aussah wie sie. Bezaubernd wäre eine viel passendere Beschreibung. Und Lady Steyne – nun, wie sollte man sie beschreiben? Sehr hübsch, wirklich sehr hübsch. Sehr passend, sehr schlicht gekleidet in weißes Leinen, mit einem schwarzen Band um den Hut und schwarzweißen Schuhen. An so einem heißen Tag konnte es nichts Passenderes geben, und die Andeutung von Schwarz kam bei den Dorfbewohnern sicherlich gut an. Mrs Jerningham trug ebenfalls Weiß, aber ohne jedes Schwarz. Da Lady Steyne erst seit kurzem verwitwet war, hatte sie natürlich schwarze Accessoires parat, während Mrs Jerningham sich vermutlich zwischen Weiß und einer anderen Farbe entscheiden musste. Und eine andere Farbe wäre bei diesem Anlass nicht passend gewesen – o nein, ganz und gar nicht.
Lady Steyne und Mrs Jerningham saßen nebeneinander. Ein hübscher Kontrast, die eine so dunkel, die andere so blond. Aber Lady Steyne war gebräunt, was ihr gut stand, Mrs Jerningham hingegen war erschreckend blass. Das ehrte sie natürlich, die Arme, bei diesem betrüblichen Anlass. Mr Jerningham saß auf der anderen Seite seiner Frau. Sehr aufrecht und korrekt und natürlich sehr besorgt um sie. Er legte seine Hand auf die ihre, beugte sich zu ihr und flüsterte. Selbst als er eine offensichtlich beruhigende Antwort bekommen hatte, galt seine ganze Aufmerksamkeit weiterhin ihr. Der junge Mann hinter ihm war natürlich der Cousin, Rafe Jerningham. Was für eine gut aussehende Familie sie doch waren. Ein sehr anmutiger Mann, wenn man diese Beschreibung auf einen Mann anwenden konnte. Nicht so groß und breit wie sein Cousin Dale, dafür wohlproportioniert. Ein sehr lebhaftes, ausdrucksstarkes Gesicht und so schöne weiße Zähne. Unter angenehmeren Umständen würde Miss Silver ihn für einen temperamentvollen und amüsanten Freund halten. Sein augenblicklicher Gesichtsausdruck war jedoch dem Anlass entsprechend.
Das Verfahren begann.
Identifikation. Medizinisches Gutachten. Miss Coles Aussage. Der Mann von der Küstenwache, der die Leiche um sieben Uhr fünfzehn gefunden hatte. Der Arzt, der sie untersucht hatte. Der Zeitpunkt des Todes irgendwann zwischen neun Uhr abends und Mitternacht. Dann Miss Cole.
Dr. Creek ging sehr behutsam mit ihr um.
»Sie sagen, Ihre Nichte war unglücklich.«
Miss Cole drückte ein sauberes Taschentuch an die Augen.
»O ja, Sir«, schluchzte sie. »Würden Sie sagen, sie war verzweifelt? Das heißt, so unglücklich, dass sie etwas Verzweifeltes tun würde?«
Miss Cole schluchzte erneut.
»O nein, Sir.«
»Hat sie je davon gesprochen, etwas Verzweifeltes zu tun, sich das Leben zu nehmen?«
»O nein, Sir. Das hat sie nicht, und sie hatte auch keinen Grund dazu. Sie war ein anständiges Mädchen, die Cissie.«
»Ja, das bezweifeln wir nicht. Sie dürfen nicht glauben, dass der
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