Das alte Haus am Meer
um der Verhandlung beizuwohnen, und ich wüsste gerne warum. Oberflächlich betrachtet, und so wie es in der Presse stand, gibt es rein gar nichts Interessantes an dem Fall. Nichts weiter als eine gewöhnliche, schmutzige Dorftragödie, die sich durch nichts, aber auch gar nichts, hervorhebt.«
»Oberflächlich betrachtet …« Miss Silver wiederholte die Worte leise und zweideutig.
»Und so wurde über die Sache in den Zeitungen auch berichtet. Ich möchte wissen, welche Informationsquelle Sie sonst noch haben. Es waren doch bestimmt nicht die Zeitungsmeldungen, die Sie hierher gescheucht haben.«
Miss Silver ließ ihre Hände auf den leuchtend blauen Wollpullover in ihrem Schoß sinken.
»Mein lieber Randal, was für ein Ausdruck!«
Sie erhielt ein schuljungenhaftes Grinsen.
»So ist es doch. Also, raus mit der Sprache. Ich habe gesehen, wie Sie sich mit Mrs Jerningham unterhalten haben. Was steckt dahinter? Was wissen Sie?«
Miss Silver strickte weiter.
»Sehr wenig«, resümierte sie.
»Aber etwas wissen Sie. Was? Ist Mrs Jerningham eine Klientin von Ihnen?«
»Da bin ich mir eben nicht sicher.«
»Das klingt sehr geheimnisvoll.«
»Sie hat am Donnerstagnachmittag um einen Termin bei mir gebeten und ihn am Freitagmorgen wieder abgesagt.«
»Donnerstagnachmittag … Das war nachdem die Leiche gefunden wurde … Hat sie die Tote erwähnt?«
»Sie hat nichts Konkretes erwähnt. Sie fragte, ob sie mich besuchen könne. Es sei etwas passiert. Sie sagte: ›Ich muss mit jemandem reden, ich kann nicht mehr, ich weiß nicht, was ich tun soll.‹ Sie schien sehr aufgeregt.«
»Da muss nicht viel dran sein. Sie ist sensibel, und sie kannte das Mädchen recht gut. Natürlich war sie bestürzt, besonders, weil Pell bei ihrem Mann angestellt war. Aber was ich wissen will, ist, warum sie überhaupt bei Ihnen anrief. Wo haben Sie sich kennen gelernt?«
»Im Zug«, sagte Miss Silver und strickte seelenruhig weiter, »auf der Heimreise von Ethel. Ich habe sehr gründlich darüber nachgedacht, und ich denke, ich kann es nicht verantworten, die Sache für mich zu behalten. Vielleicht ist ja gar nichts dran, oder …« Sie zögerte.
»Ja?«
»Ich erzähle Ihnen wohl lieber erstmal, wie es war. Mrs Jerningham war am Ende ihrer Kräfte, als sie zu mir ins Abteil stürzte. Ich sah sofort, dass sie irgendeinen schweren Schock erlitten hatte, und ebenfalls, dass sie sehr eilig abgereist war. Ich begann das Gespräch mit ihr, und sie wiederholte wie ein Echo, dass sie es sehr eilig hatte. Und als ich sie fragte, warum, antwortete sie mit seltsamer Stimme: ›Sie haben gesagt, er wolle mich umbringen.‹ Und als ich wissen wollte wer, sagte sie: ›Mein Mann.‹«
Abrupt setzte sich Randal March aufrecht hin.
»Was?«
»Das hat sie gesagt. Natürlich zog ich auch die Möglichkeit in Betracht, dass sie psychisch instabil war, aber ich habe da einige Erfahrung, und ich würde sagen, das war nicht der Fall. Ich ermunterte sie zum Reden, weil ich dachte, es würde ihr helfen. Aus dem, was sie mir bruchstückhaft erzählte, schloss ich, dass sie gehört hatte, wie zwei Frauen über sie und ihren Mann redeten. Ich glaube, sie war irgendwo auf einem Wochenendbesuch. Sie hörte, wie die beiden Frauen sich auf der anderen Seite einer Hecke unterhielten, über den Tod von Mr Jerninghams erster Frau vor zehn Jahren in der Schweiz. Sie war eine reiche Erbin, und er bekam das Geld. Diese Frauen behaupteten, der Unfall sei Mr Jerningham sehr gelegen gekommen und hätte ihn davor bewahrt, Tanfield verkaufen zu müssen. Und dann sagten sie etwas über das Geld der jetzigen Mrs Jerningham – sie hat sehr viel – und die eine spekulierte, ob sie wohl auch einen Unfall haben würde. Es war schrecklich für die arme, junge Mrs Jerningham, das mitanhören zu müssen, denn kurz zuvor wäre sie beinahe ertrunken. Das hat sie mir erzählt. Und das muss passiert sein, kurz nachdem sie ihrem Mann testamentarisch alles vermachte.«
»Das hat sie Ihnen erzählt?«
»Ja, das hat sie mir erzählt.«
»Wie konnte es passieren, dass sie fast ertrank?«
»Sie waren schwimmen – sie, ihr Mann, Lady Steyne und Mr Rafe. Die anderen alberten und spritzten herum, als sie um Hilfe rief. Sie ist keine gute Schwimmerin und schaffte es kaum zurück.«
»So was kann sehr schnell passieren.«
»Es ist passiert. Ich weiß nicht, wer sie gerettet hat, aber ihr Mann war es nicht. Denn ich sagte zu ihr: ›Sie sind aber nicht ertrunken. Wer hat Sie gerettet?‹, und sie antwortete:
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