Das alte Königreich 01 - Sabriel
das durch eine bewegte See pflügt. Er rannte direkt zu den beiden Gestalten, legte Sabriel sanft auf den Boden vor ihnen – und kippte plötzlich um wie ein gefällter Baum.
Sabriel versuchte zu ihm hinzukriechen, doch der Schmerz in ihrer Seite war so heftig, dass sie sich nur mit Mühe aufsetzen und die zwei Personen sowie die Papiersegler dahinter anblicken konnte.
»Hallo«, sagte das Duo wie aus einem Munde. »Wir sind derzeit die Clayr. Ihr müsst die Abhorsen und der König sein.«
Sabriel starrte sie an, ihr Mund war trocken. Die Sonne schien ihr in die Augen, so dass sie die Fremden nicht deutlich sehen konnte. Beide waren junge Frauen mit bis zu den Hüften reichendem blondem Haar und durchdringendem Blick. Sie trugen weiße Linnenkleider mit langen offenen Ärmeln. Sie wirkten so sauber, dass Sabriel sich in ihrer vom Wasser der Zisterne getränkten Hose und der verschwitzten Rüstung schrecklich primitiv und schmutzig vorkam. Wie die Stimmen waren auch die Gesichter der Frauen gleich. Sie waren sehr hübsch. Zwillinge.
Sie lächelten und knieten sich nieder, eine neben Sabriel, die andere neben Touchstone. Sabriel spürte das langsame Anschwellen von Chartermagie in ihnen, wie Wasser in einer Quelle – dann floss der Zauber in sie hinein und nahm den Schmerz der Pfeilwunde. Der Atem Touchstones neben ihr wurde leichter, und er sank in einen ruhigen Schlaf.
»Danke«, krächzte Sabriel. Sie versuchte zu lächeln, doch ihr schien, als hätte sie die Fähigkeit dazu verloren. »Es sind Beutejäger hinter uns her… lebende Verbündete der Toten.«
»Das wissen wir«, entgegnete das Duo. »Aber sie brauchen noch zehn Minuten bis hierher. Dein Freund – der König – rannte sehr, sehr schnell. Wir sahen ihn gestern laufen. Oder morgen.«
»Ah«, murmelte Sabriel und kam mühsam auf die Beine. Sie dachte an ihren Vater und daran, dass er gesagt hatte, die Clayr drückten sich unklar aus und brächten die Zeit durcheinander.
»Danke«, sagte sie noch einmal, denn der Pfeil fiel auf den Boden, als sie sich ganz aufgerichtet hatte. Es war ein schmaler Jagdpfeil ohne Widerhaken, der auch Rüstungen durchdringen konnte. Die Beutejäger hatten offenbar nur verhindern wollen, dass sie schneller lief. Sabriel schauderte und spürte das Loch zwischen den Schuppen ihres Harnisches. Die Wunde fühlte sich nicht wirklich verheilt an, nur älter, als hätte der Pfeil sie vor einer Woche getroffen, nicht erst vor Minuten.
»Vater sagte, dass ihr hier sein würdet… dass ihr nach uns Ausschau haltet… und auch danach, wo Kerrigors Körper sich befindet.«
»Ja«, antworteten die Clayr. »Zumindest so ungefähr. Man hat uns erst jetzt erlaubt, heute die Clayr zu sein, weil wir die besten Papiersegler-Piloten sind…«
»Nun, Ryelle ist die Beste…« Eine der Zwillingsschwestern deutete auf ihren Gegenpart. »Aber da wir auch einen Papiersegler brauchen, um wieder nach Hause zu gelangen, wurden zwei Segler benötigt, darum…«
»Kam Sanar mit«, fuhr Ryelle fort und deutete auf ihre Schwester.
»Wir beide«, sagten sie wieder wie aus einem Munde. »Es bleibt nicht viel Zeit. Ihr könnt den rot-goldenen Papiersegler nehmen – wir haben ihn in den königlichen Farben bemalt, als wir es vergangene Woche erfuhren. Aber jetzt geht es wohl erst mal um Kerrigors Körper.«
»Ja«, murmelte Sabriel. Der Feind ihres Vaters – ihrer Familie – des ganzen Königreichs. Sie musste mit dieser Verkörperung des Bösen fertig werden. Es war ihre Aufgabe, ihre Bürde, so schwer sie auch war und so schwach ihre Schultern sich augenblicklich fühlten.
»Sein Körper ist in Ancelstierre«, erklärten die Zwillinge. »Doch unsere Sicht ist schwach jenseits der Mauer, deshalb haben wir keine Karte und kennen die Ortsbezeichnungen nicht. Wir müssen es dir zeigen, und du wirst es dir merken müssen.«
»Ja«, flüsterte Sabriel. Sie kam sich plötzlich wie eine Schülerin vor, die die Lösung einer Aufgabe versprach, die eigentlich viel zu schwierig für sie war.
Die Clayr nickten und lächelten wieder. Ihre Zähne waren sehr weiß und ebenmäßig. Eine, vermutlich Ryelle – Sabriel hatte sie bereits durcheinander gebracht –, holte eine Flasche aus klarem grünem Glas aus dem weiten Ärmel ihres Gewandes. Das verräterische Blitzen von Chartermagie ließ Sabriel erkennen, dass die Flasche sich zuvor nicht dort befunden hatte. Die andere – Sanar – brachte aus ihrem Ärmel einen langen Elfenbeinstab zum
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