Das alte Königreich 01 - Sabriel
grünsilberne Segler wandte sich dem Nordwesten zu, der andere, rotgoldene, dem Süden.
Touchstone erwachte von der kalten Zugluft auf seinem Gesicht und dem ihm fremden Gefühl des Fliegens. Benommen murmelte er: »Was ist geschehen?«
»Wir fliegen nach Ancelstierre«, rief Sabriel. »Über die Mauer, um Kerrigors Körper zu finden – und ihn zu vernichten!«
»Oh«, sagte Touchstone, der nur »über die Mauer« gehört hatte. »Gut.«
25
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Soldat und salutierte an der Tür zum Badezimmer für Offiziere. »Der Offizier vom Dienst lässt Sie höflich fragen, ob Sie gleich mitkommen könnten.«
Oberst Horyse seufzte, legte seinen Rasierapparat zur Seite und benutzte den Waschlappen, um sich die restliche Seife abzuwischen. Er war an diesem Morgen schon einmal beim Rasieren unterbrochen worden und hatte am Tag mehrmals versucht, die Rasur zu beenden. Vielleicht war das ein Wink, sich einen Bart wachsen zu lassen.
»Was ist los?«, erkundigte er sich resigniert. Was immer sich tat – wahrscheinlich war es nicht erfreulich.
»Ein Flugzeug, Sir«, erwiderte der Soldat stoisch.
»Vom Hauptquartier? Hat es einen Nachrichtenzylinder abgeworfen?«
»Ich weiß es nicht, Sir. Es befindet sich auf der anderen Seite der Mauer.«
»Was!«, rief Horyse. Er ließ den Waschlappen fallen und griff beinahe gleichzeitig nach Helm und Schwert. »Unmöglich!«
Als er zum vorderen Beobachtungsposten kam – einer achteckigen Befestigung, die bis fünfzig Schritt zur Mauer reichte –, sah er, dass es durchaus möglich war. Am späten Nachmittag wurde das Licht schon unscharf – wahrscheinlich ging die Sonne auf der anderen Seite der Mauer bereits unter –, trotzdem war die Sicht noch gut genug, das ferne fliegende Objekt zu erkennen, das in einer Reihe langer Spiralen… auf der anderen Seite der Mauer langsam herunterkam. Im Alten Königreich.
Der Offizier vom Dienst beobachtete das Fluggerät durch ein Artilleriefernglas. Die Ellbogen hatte er auf das mit Sandsäcken erhöhte Parapett des Beobachtungspostens gestützt.
Horyse hielt kurz an, um sich an den Namen des Mannes zu erinnern, denn er war neu in der Außengarnison. Dann klopfte er ihm auf die Schulter.
»Jorbert, würden Sie mir kurz das Fernglas überlassen?«
Der junge Offizier zögerte, reichte Horyse dann aber das Glas, wenn auch widerstrebend wie ein Kind, das sein Lieblingsspielzeug hergeben soll.
»Es ist ohne Zweifel ein Flugzeug, Sir«, sagte er aufgeregt. »Völlig lautlos wie ein Segelflieger, aber offensichtlich irgendwie mit Antrieb. Sehr manövrierfähig, und auch kunstvoll bemalt. Es sind zwei Menschen darin, Sir.«
Horyse antwortete nicht, sondern legte das Fernglas an die Augen und stützte ebenfalls die Arme auf. Einen Moment lang konnte er das Flugzeug nicht sehen. Hastig schwenkte er das Binokular nach links und rechts, dann nach oben und unten – und da war es, tiefer als erwartet, fast schon im Landeanflug.
»Äußerste Alarmbereitschaft!«, befahl er rau, als ihm bewusst wurde, dass das Flugzeug sehr nahe beim Grenzübergang landen würde – vielleicht nur hundert Meter vom Tor entfernt.
Er hörte, wie sein Befehl von Jorbert an einen Sergeanten weitergegeben und dann hinausgebrüllt wurde, um von Wachposten und Dienst habenden Unteroffizieren aufgenommen zu werden, bis schließlich mit handbetriebenen Sirenen und der alten Glocke vor der Offiziersmesse Alarm gegeben wurde.
Es war schwer zu sehen, wer oder was sich in dem Flieger befand, bis Horyse das Fernglas so justiert hatte, dass die Vergrößerung selbst bei dieser Entfernung deutlich genug war. Er erkannte Sabriel, die Tochter Abhorsens, die von einem unbekannten Mann begleitet wurde. Horyse dachte schon daran, den Alarm abzublasen, doch dann hörte er Nagelstiefel auf den Planken und das Gebrüll der Sergeanten und Unteroffiziere. Und vielleicht war es ja gar nicht wirklich Sabriel. Die Sonne verdunkelte sich, und die erste Vollmondnacht stand bevor…
»Jorbert!«, schnaubte er, während er dem überraschten und unvorbereiteten Untergebenen das Fernglas zurückgab. »Bitten Sie den Oberfeldwebel des Regiments in meinem Namen, persönlich eine Abteilung der Scouts zusammenzustellen – wir werden uns hinausbegeben und uns dieses Flugzeug näher anschauen.«
»Oh, danke, Sir!« Leutnant Jorbert strahlte, denn er nahm an, dass er in dieses »wir« mit einbezogen war. Seine Begeisterung verblüffte Horyse.
»Leutnant Jorbert, haben
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