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Das alte Königreich 01 - Sabriel

Titel: Das alte Königreich 01 - Sabriel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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einzelnen Geräuschen schäumenden und gischtenden Wassers. Ohne zu überlegen trat Sabriel ins Freie.
    Der vermummte Türhüter begleitete sie hinaus und schloss die Tür hinter sich, ehe er ein filigranes silbernes Fallgitter herunterließ und mit einem eisernen Vorhängeschloss sicherte. Beides erschien wie aus dem Nichts und war gleichfalls von der Charter gesandt, denn Sabriel spürte die Kraft darin. Doch sowohl Tür wie Fallgitter und Schloss würden den Mordicanten nicht lange aufhalten können. Der einzige Fluchtweg lag über schnell fließendem Wasser oder in einem ungewöhnlich gleißenden Leuchten der Mittagssonne.
    Ersteres lag unter ihr; das Zweite war noch viele Stunden entfernt. Sabriel stand auf einem schmalen Sims über dem Ufer eines Flusses, der fast eine halbe Meile breit war. Ein Stück zu ihrer Rechten, nur ein paar Schritte entfernt, stürzte dieser mächtige Fluss über die Felswand und bildete einen beeindruckenden Wasserfall. Sabriel beugte sich ein wenig vor, um zu schauen, wie das Wasser donnernd zerstob und gewaltige weiße Gischtschwingen schuf, die mühelos ihre gesamte alte Schule mitsamt neuem Anbau hätte verschlingen können wie ein Schaumbad eine Gummiente. Es war ein sehr langer, tiefer Fall; das Wasser, das aus der schwindelnden Höhe mit ungebändigter Macht herabstürzte, ließ Sabriel rasch den Blick abwenden und zum Fluss zurückschauen. Geradeaus, ungefähr in der Mitte, unmittelbar am Rand des Wasserfalls, konnte Sabriel gerade noch eine Insel erkennen, die den Fluss in zwei Arme teilte. Es war eine kleine Insel, nicht größer als ein Fußballplatz, doch sie erhob sich aus dem aufgewühlten, gischtenden Wasser wie ein Schiff aus zerklüftetem Gestein.
    Rund um die Insel erstreckte sich eine etwa sechs Mann hohe Kalksteinmauer. Hinter ihr stand ein Haus. Es war zu dunkel, um es deutlich zu sehen, doch es besaß einen schmalen Turm mit rotem Ziegeldach, auf dem sich der erste Glanz der Morgenröte spiegelte. Hinter dem Turm ließ eine dunkle Gebäudemasse darauf schließen, dass sich hier ein befestigtes Wohnhaus befand, zweifellos mit Küche, Schlafzimmern, Waffenkammer, Vorratsraum und Keller. Das Arbeitszimmer, wie Sabriel sich plötzlich erinnerte, befand sich im vorletzten Stockwerk des Turms; im obersten Stock war ein Observatorium eingerichtet, das sowohl zur Beobachtung der Sterne wie der Umgebung diente.
    Es war Abhorsens Haus. Eigentlich ihr Zuhause, obwohl Sabriel es nur zwei-, dreimal im Leben besucht hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um sich nun an allzu viel erinnern zu können. Diese Jahre ihrer Kindheit waren verschwommen und hauptsächlich von Erinnerung an die Nomaden, an das Innere von Planwagen und an Zeltlager gefüllt – alles wirr durcheinander. Nicht einmal an den Wasserfall entsann sie sich, obwohl sich bei seinem Tosen irgendetwas in ihrem Innern geregt hatte – etwas, das mit ihr zu tun haben musste, als sie vier Jahre alt gewesen war.
    Dummerweise erinnerte sie sich nicht, wie man zum Haus gelangte. Nur dass ihr mütterlicher Schutzgeist Abhorsens Brücke erwähnt hatte.
    Es war Sabriel gar nicht bewusst gewesen, dass sie diese Worte laut sagte, bis der kleine Türhüter an ihrem Ärmel zupfte und nach unten deutete. Sabriel bemerkte erst jetzt, dass Stufen ins Ufergestein geschlagen waren, die direkt zum Fluss hinunterführten.
    Dieses Mal zögerte sie nicht. Sie nickte dem Sendboten der Charter zu und flüsterte: »Danke«, bevor sie die Treppe nahm. Die Anwesenheit des Mordicanten bedrängte sie wieder wie der faulige Atem eines Fremden, den sie dicht im Nacken spürte. Sie wusste, dass die Kreatur das obere Tor erreicht hatte, obwohl der Lärm, den sie machte, im noch lauteren Tosen des Wassers unterging.
    Die Treppe führte zum Fluss, endete dort aber nicht. Trittsteine, die vom Sims aus nicht zu sehen waren, führten zur Insel. Sabriel beäugte sie nervös und blickte aufs Wasser. Es war offensichtlich sehr tief und rauschte mit beängstigender Geschwindigkeit dahin. Die Trittsteine ragten kaum über die schäumenden Wogen, und obwohl sie breit und des besseren Halts wegen mit Ritzen versehen waren, wirkten sie durch die matschigen Überreste von Eis und Schnee glatt und rutschig.
    Sabriel beobachtete, wie eine kleine Eisscholle dahergeschossen kam, und stellte sich schaudernd vor, sie selbst würde wie diese Eisscholle den Wasserfall hinunterstürzen und in der Tiefe zerschellen. Dann dachte sie an den Mordicanten hinter sich, an

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