Das alte Königreich 01 - Sabriel
musste.
Ängstlich kroch sie näher und sah, dass sich nun Zeichen an dem Ring befanden, Chartersymbole, die ihr sagten, was sie tun musste. Müde plagte sie sich auf die Knie und fingerte am Glockenbandelier. Saraneth war schwer, im Augenblick fast zu schwer für Sabriel, doch sie schaffte es, die Glocke herauszuziehen. Bald darauf läutete die tiefe, zwingende Stimme in der Grube und schien die glühende, von Silber gebundene Masse zu durchdringen.
Der Ring antwortete der Glocke mit einem Summen und spie einen birnenförmigen Tropfen seines Metalls aus, der im Abkühlen zu einer Miniatur-Saraneth wurde. Gleichzeitig veränderte der Ring seine Farbe und Beschaffenheit. Die Farbe des Rubins schien auszurinnen und sich mit dem Silber zu verbinden. Es wurde stumpf und matt und war bald kein Silberring mehr, sondern ein Halsband aus rotem Leder mit einem silbernen Glöckchen.
Bei dieser Veränderung erzitterte die weiße Masse und leuchtete wieder hell, bis Sabriel erneut die Augen schützen musste. Als die Schatten wieder zusammenwuchsen, blinzelte sie – und da saß Mogget mit einem roten Lederhalsband. Er sah aus, als würde er jeden Moment ein Fellbüschel ausspeien.
Doch es war kein Fellbüschel, sondern ein Silberring, dessen Rubin Moggets inneres Licht widerspiegelte. Der Ring rollte klingelnd über den Stein zu Sabriel. Sie hob ihn auf und steckte ihn an ihren Finger zurück.
Moggets Glühen schwand. Auch der Papiersegler war nur noch verlöschende Glut, Asche und traurige Erinnerung. Die Dunkelheit kehrte zurück und hüllte Sabriel mit ihren Schmerzen und Ängsten ein. Sie blieb stumm sitzen, bemühte sich nicht einmal zu denken.
Wenig später spürte sie eine sanfte Katzennase an ihre gefalteten Hände stupsen und eine Kerze, die noch feucht war von Moggets Mäulchen.
»Deine Nase blutet immer noch«, sagte eine vertraute, schulmeisterliche Stimme. »Zünde die Kerze an, zwick deine Nase zusammen und hol ein paar Decken für uns heraus, damit wir schlafen können. Es wird kalt.«
»Willkommen zurück, Mogget«, wisperte Sabriel.
13
Als sie erwachten, erwähnten weder Sabriel noch Mogget die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Sabriel badete ihre arg geschwollene Nase in Wasser aus ihrer Feldflasche und versuchte, den Albtraum der letzten Stunden zu verdrängen. Mogget benahm sich auf verlegene Weise unauffällig. Trotz allem, was geschehen war, hatte die Befreiung seines Alter Ego – oder was immer es gewesen sein mochte – sie beide vor der sicheren Vernichtung durch den Wind gerettet.
Wie erwartet hatte der Morgen einen fahlen Schein in den dunklen Schlund gebracht, und je weiter der Tag voranschritt, desto mehr hatte der schwache Schimmer sich zu einer Art Dämmerung entwickelt. Sabriel vermochte zwar mehr als nur die sprichwörtliche Hand vor den Augen zu sehen, doch was sich weiter als zwanzig oder dreißig Schritt entfernt befand, verschwamm bereits vor ihren Augen.
Nicht dass der Schacht viel größer gewesen wäre – vielleicht hundert Schritt im Durchmesser, nicht nur fünfzig, wie sie beim Absturz geschätzt hatte. Die gesamte Grundfläche war gepflastert, mit einem kreisrunden Abfluss in der Mitte, und mehrere Tunnels führten in die steilen Felswände. Sabriel wusste, dass sie sich bald dort umsehen musste, da es in der Grube kein Wasser gab. Mit Regen war vermutlich auch nicht zu rechnen. Es war kühl, doch bei weitem nicht so kalt wie auf dem Plateau bei Abhorsens Haus. Das Klima wurde durch die Nähe des Ozeans gemildert; außerdem befand sie sich, wie sie bald feststellte, in mindestens hundert Metern Tiefe, also wahrscheinlich sogar unter Meereshöhe. Vorläufig konnte Sabriel nichts anderes tun, als sich mit ihrer halb vollen Feldflasche an ihren leicht angesengten Rucksack zu lehnen, Kräutersalbe auf ihre Blutergüsse zu streichen und ihren seltsamen Sonnenbrand mit einem Umschlag aus übel riechenden Tanmarilen-Blättern zu behandeln. Mit ihrer Nase war es schwieriger. Sie war nicht gebrochen, nur arg geschwollen und dick mit Blut verkrustet.
Nach etwa einer Stunde verlegenen Schweigens machte Mogget sich auf den Weg, um sich umzuschauen, nachdem er Sabriels Kekse und Dörrfleisch zum Frühstück abgelehnt hatte. Sie vermutete, dass er sich stattdessen eine Ratte oder etwas ähnlich Schmackhaftes gönnen würde. In gewisser Weise war sie froh, dass er sie eine Weile allein ließ, denn die Erinnerung an die Bestie aus Freier Magie, die in der kleinen weißen Katze
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