Das alte Königreich 01 - Sabriel
Felswand zu verschmelzen schien. Mit dem zarten Rautenmuster, in dem es gewebt war, sah es unendlich fragil aus, doch die ausgetrockneten Vogelkadaver, die darauf lagen, straften diesen Eindruck Lügen. Sabriel vermutete, dass die bedauernswerten Vögel hinuntergeflogen waren, um an das Futter unten zu gelangen, und sich dabei im Netz verfangen hatten.
Der Boden der Grube war stellenweise mit einer beachtlichen, wenngleich eintönigen Vegetation bedeckt – hauptsächlich verkrüppelte Bäume und missgebildete Büsche. Doch Sabriel interessierte sich nicht für die Bäume, denn zwischen jedem der Vegetationsflecken befanden sich Pflastersteine, und auf jeder dieser gepflasterten Stellen lag ein Schiff.
Sabriel zählte insgesamt vierzehn offene Einmaster, deren schwarze Segel gesetzt waren, um einen Wind einzufangen, den es nicht gab, und Ruder für den Fall einer Flut, die nicht kommen würde. Viele verschiedene Flaggen und Standarten hingen schlaff von den Stangen. Sabriel brauchte sie nicht flattern zu sehen, um zu wissen, welch seltsame Ladung diese Schiffe beförderten. Sie hatte von diesem Ort gehört – wie jedes Kind in der nördlichen Region von Ancelstierre, dicht am Alten Königreich. Hunderte von Geschichten über Schätze, Abenteuer und die große Liebe waren mit diesem seltsamen Hafen verbunden.
»Totenschiffe«, murmelte Sabriel. »Königsschiffe.«
Sie fand eine weitere Bestätigung, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, denn in die Erde, durch die sie am Tunneleingang schlurfte, waren Bindesprüche gewoben, die echten Tod gewährten und nur von einem Abhorsen stammen konnten. Keinem Nekromanten würde es je gelingen, einen der früheren Herrscher des Alten Königreichs zu beschwören.
»Die berühmte Beerdigungsstätte der Ersten… ccchk… der Könige und Königinnen des Alten Königreichs«, erklärte Mogget nach anfänglichen Schwierigkeiten. Er strich um Sabriels Füße; dann stellte er sich auf die Hinterbeine und beschrieb Gesten wie ein kleiner Zirkusdirektor in weißem Pelz. Schließlich flitzte er zu den Bäumen.
»Komm – da ist eine Quelle, Quelle, Quelle!«, rief er und sprang im Takt seiner Worte auf und ab.
Sabriel folgte ihm etwas langsamer. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, was geschehen war, das Mogget so fröhlich machte. Sie fühlte sich zerschlagen, müde, deprimiert, verstört durch das Ungeheuer Freier Magie und traurig wegen des zerstörten Papierseglers.
Auf dem Weg zu der Quelle kamen sie dicht an zwei Schiffen vorbei. Mogget tanzte vergnügt in einem wilden Wirbel von Drehungen, Sprüngen und Hopsern um sie herum, doch die Spanten reichten zu hoch, um hineinzublicken, und Sabriel fühlte sich nicht kräftig genug, an einem Ruder hochzuklettern. Bei den Galionsfiguren jedoch blieb sie stehen und betrachtete sie bewundernd. Es waren beeindruckende Männer – einer um die vierzig, der andere ein wenig älter. Beide waren bärtig, hatten die gleichen gebieterischen Augen und trugen ähnliche Rüstungen wie Sabriel, nur waren sie mit Orden, Tressen und anderem behangen. Jeder hielt ein Schwert in der Rechten und in der Linken eine aufgeschlagene Schriftrolle mit der heraldischen Darstellung der Charter.
Das dritte Schiff war anders. Es schien kürzer zu sein und weniger prunkvoll, und sein Mast war kahl, ohne schwarzes Segel. Keine Ruder ragten aus seinen Seiten, und als Sabriel die Quelle erreichte, die unter seinem Heck lag, fiel ihr auf, dass die Ritzen zwischen den Planken nicht mit Teer gedichtet waren. Da wurde ihr bewusst, dass dieses Schiff noch unfertig war.
Neugierig ließ sie ihren Rucksack bei dem kleinen Tümpel mit sprudelndem Wasser zurück und ging zum Bug herum. Auch er war anders, denn die Galionsfigur war ein junger Mann – ein nackter junger Mann, detailgetreu geschnitzt.
Sabriel errötete leicht, denn die Figur war so lebensecht, als wäre ein junger Mann aus Fleisch und Blut in Holz verwandelt worden, und Sabriels bisherige Bekanntschaft mit nackten Männern beschränkte sich auf die Abbildungen in den Biologiebüchern des Wyverley College. Sein Körper war perfekt proportioniert, sein kurz geschnittenes Haar lag in dichten Locken eng am Kopf. Seine wohlgeformten Hände waren ein wenig erhoben, als wollte er etwas Böses abwehren.
Die Genauigkeit der Darstellung reichte bis zu einem beschnittenen Penis, auf den Sabriel nur kurz und verlegen blickte, ehe sie sich wieder seinem Gesicht zuwandte. Es war nicht klassisch schön, aber
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