Das alte Königreich 01 - Sabriel
starrte zum fernen Horizont, als könnte er bereits die Türme von Belisaere sehen.
»Du wirst es mir irgendwann doch sagen müssen«, belehrte Sabriel ihn im Tonfall der Direktorin des Wyverley College. »So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«
Touchstone benetzte die Lippen, zögerte, und sagte schließlich: »Es war Dummheit, keine böse Absicht, Mylady. Vor zweihundert Jahren, als die letzte Königin regierte… Ich glaube… nein, ich weiß, dass ich zum Teil verantwortlich bin für den Untergang des Königreichs, für das Ende der Königlichen Linie.«
»Was!«, rief Sabriel. »Wie ist das möglich?«
»Ich bin…«, fuhr Touchstone düster fort, und seine Hände zitterten so sehr, dass die Pinne ein verrücktes Zickzack-Kielwasser verursachte. »Es war ein… das heißt…«
Er hielt inne, holte tief Luft und setzte sich aufrechter; dann fuhr er fort, als würde er einem militärischen Vorgesetzten Bericht erstatten.
»Ich weiß nicht, wie viel ich Euch erzählen kann, denn es hat mit den Großen Chartern zu tun. Wo soll ich anfangen? Ich würde sagen, mit der Königin. Sie hatte vier Kinder. Ihr ältester Sohn, Rogir, war in meiner Kindheit einer meiner Spielgefährten. Er war stets der Anführer bei allen unseren Spielen. Er hatte die Ideen, wir führten sie aus. Später, als wir heranwuchsen, wurden seine Ideen… nun, seltsamer. Wir lebten uns auseinander. Ich ging zur Garde, und Rogir verfolgte seine eigenen Interessen. Jetzt weiß ich, dass zu diesen Interessen Freie Magie und Nekromantie gezählt haben müssen – damals ahnte ich es nicht, obwohl er stets geheimnisvoll tat und oft unterwegs war, so dass ich Verdacht hätte schöpfen müssen.
Ein paar Monate bevor es dann geschah… Nun, Rogir war mehrere Jahre fort gewesen und kam kurz vor dem Mittwinterfest zurück. Ich freute mich, ihn wieder zu sehen, denn er schien fast wieder so zu sein, wie er als Kind gewesen war. Er hatte das Interesse an jenen eigentümlichen Dingen verloren, die ihn früher angezogen hatten. Wir verbrachten erneut viel Zeit miteinander, ritten auf Falkenjagd, tranken, tanzten.
Dann, an einem eisigen Spätnachmittag kurz vor Sonnenuntergang, hatte ich Dienst als Leibwache der Königin und ihrer Hofdamen. Sie spielten Cranaque. Rogir kam zu ihr und bat sie, ihn zu der Stelle zu begleiten, wo die Großen Steine sind – he, ich kann es sagen!«
»Ja«, brummte Mogget. Er sah müde aus wie eine streunende Katze, die einen Tritt zu viel abbekommen hatte. »Die See wäscht eine Zeit lang alles rein. Wir können von den Großen Chartern reden, zumindest für kurze Zeit. Ich es hatte ganz vergessen.«
»Rede weiter«, bat Sabriel aufgeregt. »Nutzen wir die Gelegenheit, solange wir können. Die Großen Steine dürften die Steine und der Mörtel aus dem Reim sein – die dritte und fünfte Große Charter, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Touchstone geistesabwesend, als rezitiere er etwas. »Die Mauer. Die Leute, oder was immer sie waren, vereinigten drei der von ihnen geschaffenen Großen Chartern mit der Königlichen Dynastie und zwei mit zuvor toter Materie, der Mauer und den Großen Steinen.
Die Großen Steine… Rogir kam und sagte, dass dort etwas nicht stimme und dass die Königin sich darum kümmern müsse. Er war ihr Sohn, aber sie hielt nicht viel von seiner Weisheit und glaubte ihm nicht, als er behauptete, dass es mit den Steinen Schwierigkeiten gäbe. Sie war eine Chartermagierin und spürte nichts Widriges. Außerdem gewann sie gerade beim Cranaque, deshalb sagte sie, er solle bis zum Morgen warten. Also bat Rogir mich, für ihn zu sprechen. Ich tat es. Ich glaubte und vertraute ihm, und meine Überzeugung beeinflusste die Königin. Schließlich erklärte sie sich einverstanden. Inzwischen war die Sonne untergegangen. Mit Rogir, mir, drei Gardisten und zwei Hofdamen stieg sie hinunter in das Reservoir, wo die Großen Steine sind.«
Als Touchstone weiterredete, wurde seine Stimme zu einem heiseren Wispern.
»Schreckliches Unrecht geschah dort unten, doch kam es von Rogir selbst, nicht von seiner angeblichen Entdeckung. Von den sechs Großen Steinen waren zwei soeben zerstört worden, gebrochen mit dem Blut seiner eigenen Schwestern, geopfert durch seine Knechte Freier Magie. Ich erlebte ihre letzten Sekunden mit, sah die schwache Hoffnung in ihren brechenden Augen, als das Prunkschiff der Königin sich über das Wasser näherte. Ich spürte den Schock, als die Steine barsten, und ich erinnere mich, wie
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