Das alte Königreich 02 - Lirael
antwortete die Hündin ruhig. »Bitte sie.«
Lirael stieß die Luft aus, holte tief Atem und zwang sich zu sagen: »Bitte öffne dich.«
Die Tür schien einen Augenblick darüber nachzudenken, dann schwang sie langsam nach innen auf und ließ Lirael gerade Zeit genug, zurückzuweichen. Hinter der Tür war das Tosen des Flusses zu vernehmen. Kalter Wind strich durch Liraels arg versengtes Haar und brachte irgendetwas mit sich, das die Aufmerksamkeit der Hündin erregte, doch Lirael wusste nicht, was es war.
»Hmmm«, brummte die Hündin, mit einem Ohr zur Tür und zur charterbeleuchteten Brücke gewandt. »Menschen. Clayr. Möglicherweise sogar deine Tante.«
»Tante Kirrith!«, rief Lirael bestürzt und sah sich erschrocken nach einem anderen Ausgang um. Doch es gab nur einen Weg – den über die rutschige, vom Fluss überspülte Brücke. Nun konnte sie auch helle Charterlichter in der Kluft sehen, die da und dort vom Dunst und von den Schaumspritzern aus dem Fluss getrübt wurden.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Lirael und schaute sich um, doch von der Fragwürdigen Hündin war plötzlich nichts mehr zu sehen. Sie war einfach verschwunden.
»Hündin?«, flüsterte Lirael, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Verlass mich jetzt nicht!«
Um nicht von anderen gesehen zu werden, war die Hündin schon öfter verschwunden. Und jedes Mal, wenn dies geschah, hatte Lirael Angst, ihre einzige Freundin könnte nie mehr zurückkommen. Angst durchdrang sie auch diesmal – zugleich mit einem Schauder vor dem Geheimen Wissen, das in dem Buch unter ihrem Arm brodelte und das sie nicht wollte, denn es war nicht von den Clayr.
Eine letzte Träne rann ihr über die Wange. Sie wischte sie rasch weg, denn sie gönnte Tante Kirrith nicht die Befriedigung, sie weinen zu sehen. Lirael hielt den Kopf stolz erhoben, machte den ersten Schritt auf die Brücke und schaute hinunter in den wogenden Dunst und das schnell dahintosende Wasser. Ohne die vertraute Nähe der Hündin fand sie die Brücke viel erschreckender. Beim zweiten Schritt zögerte Lirael und begann zu schwanken. Einen Augenblick glaubte sie hinunterzustürzen und kauerte sich in ihrer Panik auf alle viere. Das
Buch des Erinnerns und Vergessens
rutschte und fiel beinahe aus ihrer Bluse. Lirael schob es zurück und machte sich daran, über die schmale Brücke zu kriechen, was ihre ganze Konzentration erforderte; deshalb blickte sie erst auf, als sie die andere Seite fast erreicht hatte.
Als sie endlich aufblickte, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus und zuckte zusammen. Nur das rasche Zugreifen der zwei vorderen Clayr rettete sie vor einem wahrscheinlich tödlichen Sturz in das aufgewühlte, eisige Wasser des Ratterlins.
Die beiden Clayr, die Lirael so in Schrecken versetzt hatten, waren Sanar und Ryelle, von denen sie am wenigsten erwartet hätte, dass sie nach ihr suchen würden. Wie immer sahen sie ruhig und gefasst aus, schön und gepflegt. Sie trugen die Kleidung der Neuntagewache: lange, weiße, mit winzigen goldenen Sternen gesprenkelte Gewänder. Ihr langes blondes Haar wurde von juwelenbesetzten Netzen gehalten. Sie hatten Stäbe aus Stahl und Elfenbein in den Händen, die erkennen ließen, dass sie gemeinsam die Stimme der Wache waren. Keine sah auch nur einen Tag älter aus, als Lirael sie an ihrem vierzehnten Geburtstag auf der Terrasse gesehen hatte. Sie waren für Lirael noch immer die vollkommene Verkörperung der Clayr – also das genaue Gegenteil von ihr selbst.
Ihnen folgte eine Schar weiterer Clayr, darunter viele hochrangige, einschließlich Oberbibliothekarin Vancelle und sämtlicher Mitglieder der derzeitigen Neuntagewache: Siebenundvierzig Clayr hatten sich hinter Sanar und Ryelle aufgereiht – weiße Gestalten in der Dunkelheit der Kluft.
Als schlimmstes Zeichen jedoch wertete Lirael, dass Tante Kirrith nicht unter den Anwesenden war, denn dies bedeutete, dass man sie mit viel Schlimmerem bestrafen würde als mit zusätzlichem Küchendienst. Lirael hatte keine Ahnung, welche Art Bestrafung die Anwesenheit der
gesamten
Wache nach sich zog, denn sie hatte noch nie davon gehört, dass alle zusammen das Observatorium verlassen hätten.
»Steh auf, Lirael«, sagte eine der Zwillingsschwestern. Da erst wurde Lirael bewusst, dass sie immer noch, von den beiden Clayr gestützt, am Boden kauerte. Vorsichtig erhob sie sich und versuchte, den Blicken aus all den blauen und grünen Augen auszuweichen.
Sie wollte etwas sagen, doch ihre Kehle
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