Das alte Königreich 02 - Lirael
war wie zugeschnürt. Sie hüstelte und stotterte, bis es ihr endlich gelang, ein paar Worte zu flüstern. »Ich wollte nicht an diesen Ort. Es ist einfach… passiert. Und ich weiß, dass ich das Dinner versäumt habe… und die Mitternachtsrunden. Ich werde es wieder gutmachen… irgendwie…«
Sie hielt inne, als Sanar und Ryelle einander ansahen und lachten. Doch es war ein gütiges, erstauntes Lachen, nicht der Hohn, den Lirael befürchtet hatte.
»Es scheint zur Tradition zu werden, dass wir dich an deinem Geburtstag an den seltsamsten Orten vorfinden«, sagte Ryelle – oder war es Sanar? – und blickte hinunter auf das Buch, das aus Liraels Bluse ragte, und dann zu der silbernen Panflöte, die aus der Wamstasche spitzte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, weil du die Runden und ein Dinner versäumt hast. Wie es scheint, hast du dir heute Nacht eine Art Geburtsrecht geholt, das lange Zeit auf dich gewartet hat. Alles andere ist unwichtig.«
»Was meinst du mit Geburtsrecht?«, fragte Lirael, denn die Sicht war das Geburtsrecht der Clayr.
»Du weißt, dass du als Einzige unter den Clayr nie in den Visionen Gesehen werden konntest«, begann die andere Zwillingsschwester. »Nicht einmal mit einem flüchtigen Blick. Doch vor einer Stunde haben wir, die Neuntagewache, Gesehen, dass du hier sein wirst – und zugleich an einem anderen Ort. Keiner von uns hatte auch nur eine Ahnung, dass es diese Brücke gibt oder den Raum auf der gegenüberliegenden Seite. Zwar können die heute lebenden Clayr dich in ihren Visionen nicht Sehen, doch zweifellos haben die Clayr einer längst vergangenen Zeit genug Gesehen, um diesen Ort und die Dinge vorzubereiten. Um
dich
vorzubereiten.«
»Worauf?«, fragte Lirael voller Furcht ob dieser plötzlichen Aufmerksamkeit. »Ich möchte doch nur normal sein. Ich möchte die Sicht haben.«
Sanar – es war sie, die zuletzt gesprochen hatte – blickte auf Lirael hinunter und erkannte den Schmerz in ihrem Innern. Seit ihrer ersten Begegnung vor fünf Jahren hatten sie und ihre Schwester ein Auge auf Lirael gehabt und wussten mehr über ihr Leben, als ihre junge Cousine ahnte.
Sanar wählte ihre Worte sorgfältig.
»Lirael, die Sicht mag noch zu dir kommen und wird wegen des langen Wartens umso stärker sein. Doch jetzt hast du andere Gaben erhalten, die vom Königreich dringend benötigt werden. Du hast das Potenzial, gewaltige Macht zu erlangen, Lirael, aber ich fürchte, dass du auch viele Prüfungen überstehen musst.«
Sie hielt inne und blickte in die wallende Dunstwolke hinter Lirael. Ihre Augen schienen sich zu trüben, während ihre Stimme tiefer, unpersönlicher und weniger freundlich wurde.
»Du wirst viele Heimsuchungen ertragen müssen – auf einem Pfad, den wir nicht Sehen können. Doch du wirst niemals vergessen, dass du eine Tochter der Clayr bist. Du magst vielleicht nicht Sehen, aber du wirst dich Erinnern. Und im Erinnern wirst du die verborgene Vergangenheit Schauen, welche die Geheimnisse der Zukunft enthält.«
Lirael schauerte bei diesen Worten, denn Sanar hatte mit der Wahrheit der Prophezeiung gesprochen, und ihre Augen funkelten in einem seltsamen, eisigen Licht.
»Was meinst du mit Heimsuchungen?«, fragte Lirael, als das letzte schwache Echo von Sanars Worten im Tosen des Flusses unterging.
Sanar schüttelte den Kopf und lächelte. Der Augenblick der Vision war vergangen. Da sie nicht sprechen konnte, blickte sie ihre Schwester an, die fortfuhr: »Als wir dich heute Abend hier Sahen, Erblickten wir dich auch anderswo – an einem Ort, den wir seit vielen Jahren erfolglos zu Schauen versuchen«, erklärte Ryelle. »Du warst am Roten See, in einem Boot aus geflochtenem Rohr. Die Sonne stand hoch und strahlte hell. Deshalb wissen wir, dass es im Sommer sein wird. Und weil du so ausgesehen hast wie jetzt, wird es wohl der kommende Sommer sein…«
Jetzt nahm Sanar den Faden wieder auf: »Ein junger Mann wird bei dir sein. Ein kranker oder verwundeter Mann, den wir im Auftrag des Königs suchen sollten. Wir wissen nicht genau, wo er jetzt ist oder wann er zum Roten See kommen wird. Er ist von Mächten umhüllt, die unsere Sicht abwehren, und seine Zukunft ist dunkel. Doch wir wissen, dass er sich im Zentrum einer großen und schrecklichen Gefahr befindet. Einer Gefahr nicht nur für ihn, sondern für uns alle, für das gesamte Königreich. Der junge Mann wird im Hochsommer mit dir in dem Rohrboot sein.«
»Ich verstehe nicht«, flüsterte
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