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Das alte Königreich 02 - Lirael

Titel: Das alte Königreich 02 - Lirael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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Lireal hatte ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht.
    »Ich Sehe dich, Stimme der Neuntagewache«, sagte die Frau mit der Axt in seltsam förmlichem Tonfall. »Ihr dürft passieren. Doch die eine zwischen euch ist nicht Erwacht. Nach den alten Gesetzen ist ihr nicht gestattet, die geheimen Wege zu sehen.«
    »Mach dich nicht lächerlich, Erimael«, rügte Sanar. »Welche alten Gesetze? Es ist Lirael, Arielles Tochter.«
    »Erimael?«, flüsterte Lirael und blickte auf das harte Gesicht unter dem offenen Helm. Erimael war vor sechs Jahren zu den Clayr-Jägern gegangen und seither nicht mehr gesehen worden. Eine Zeit lang hatte es geheißen, Erimael habe einen tödlichen Unfall erlitten, und bis jetzt hatte Lirael geglaubt, die Trauerfeier versäumt zu haben – wie sehr viele andere Anlässe, bei denen sie ihren blauen Kittel hätte tragen müssen.
    »Die Gesetze sind eindeutig«, entgegnete Erimael mit strenger Stimme, obwohl sie nervös schluckte, wie Lirael bemerkte. »Ich bin die Axtwächterin. Sie muss eine Augenbinde tragen, wenn ihr wollt, dass wir sie einlassen.«
    Sanar schnaubte und wandte sich der anderen Frau zu. »Und was sagt die Schwertwächterin? Sag mir jetzt bloß nicht, dass du derselben Meinung bist.«
    »Doch, bedauerlicherweise«, antwortete die andere Frau, die viel älter war, wie Lirael jetzt erkannte. »Das Gesetz muss befolgt werden. Gäste haben Augenbinden zu tragen. Jeder, der keine Erwachte Clayr ist, gilt als Gast.«
    Sanar seufzte und wandte sich Lirael zu. Diese hatte bereits den Kopf gesenkt, damit niemand sehen konnte, wie gedemütigt sie sich fühlte. Langsam nahm sie ihr Kopftuch ab, faltete es zu einer Binde, legte sie über die Augen und verknotete sie. Hinter der weichen Dunkelheit des Tuches weinte sie stumm, und der Stoff sog ihre Tränen auf.
    Sanar und Ryelle nahmen sie wieder bei den Händen, und Lirael spürte ihr Mitgefühl, doch es half ihr nicht. Dies hier war noch schlimmer als die bittere Erkenntnis, nicht dazuzugehören. Nun war sie unwiderruflich als Außenseiterin erkannt. Sie war keine Clayr, welcher Art auch immer. Sie war nur ein Gast.
    Lirael stellte lediglich zwei Fragen, während Ryelle und Sanar sie einen labyrinthähnlichen Gang entlangführten.
    »Wann muss ich aufbrechen?«
    »Heute«, erwiderte Ryelle, wobei sie Lirael so mit dem Ellbogen schob, bis sie die gewünschte Richtung einschlug. »Das heißt sobald wie möglich. Ein Schiff wird für dich vorbereitet, das dich durch einen Zauber den Ratterlin hinunter nach Qyrre bringt. Von dort sollte es dir möglich sein, dich von Konstablern oder Gardisten nach Kante, direkt am Roten See, eskortieren zu lassen. Es dürfte eine schnelle und ereignislose Reise werden. Wir wünschten, wir könnten wenigstens einen Teil davon schon vorher Sehen.«
    »Muss ich ohne Begleitung reisen?«
    Lirael konnte es zwar nicht sehen, doch sie spürte, dass Sanar und Ryelle Blicke wechselten und stumm unter sich ausmachten, wer antworten sollte. Schließlich sagte Sanar: »So wurdest du Gesehen, darum fürchte ich, dass du auch so reisen wirst. Ich wollte, es wäre anders. Wir würden dich mit einem Papiersegler fliegen, doch alle unsere Segler wurden anderswo Gesehen. So bleibt nur der Fluss.«
    Allein. Sogar ohne ihre einzige Freundin, die Fragwürdige Hündin. Es spielte wirklich keine Rolle mehr, was jetzt mit ihr geschah.
    »Wir müssen jetzt Stufen hinunter«, warnte Ryelle und hielt Lirael wieder fest. »Ungefähr dreißig. Dann kommen wir ins Observatorium, und du darfst die Augenbinde abnehmen.«
    Gemeinsam mit den Zwillingen stieg Lirael die Treppe hinunter. Es war schrecklich, nicht sehen zu können, wohin sie ihre Füße setzte. Einige Stufen erschienen ihr niedriger als andere. Und um alles noch schlimmer zu machen, war überall ein gespenstisches Rascheln zu hören und hin und wieder so etwas wie ein Flüstern oder eine gedämpfte Unterhaltung.
    Schließlich erreichten sie ebenen Boden und machten sechs Schritte vorwärts. Dann half Sanar, ihr die Augenbinde abzunehmen.
    Als Erstes bemerkte Lirael Licht und Raum, erst dann die dichten Reihen der Clayr, die stumm in ihren weißen, raschelnden Roben dastanden. Sie befand sich in der Mitte eines gewaltigen Saales, der gänzlich aus dem Eis gehauen war – eine riesige Höhle, mindestens so groß wie die Große Halle, die Lirael so hasste. Überall schienen Lichter aus Chartermagie und spiegelten sich auf dem Eis, so dass es nirgends auch nur eine Spur von

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