Das alte Königreich 02 - Lirael
kaum milderte, überraschte es nicht, dass Sam lange vor Sonnenaufgang erwachte und Sprosse wieder zu einer schnelleren Gangart antrieb, als ihr lieb war.
Er begegnete nur vier oder fünf Feldarbeitern auf der steinigen, schmalen Straße und wechselte aus Furcht vor Entdeckung kaum ein Wort mit ihnen. Auch als er ein paar Kleinigkeiten zu essen kaufte und nach dem besten Weg durch den Sindelwald zum Ratterlin fragte, sprach er nur das Notwendigste.
In einer Ortschaft, in der er Hafer für Sprosse und einen Sack Zwiebeln und Pastinaken kaufte, erschrak er heftig, als zwei berittene Konstabler geradewegs auf ihn zu kamen. Doch sie nickten nur höflich und ritten ohne anzuhalten weiter ostwärts. Offenbar hatte sich die Kunde von einem flüchtigen Nekromanten oder einem vermissten Prinzen noch nicht herumgesprochen, oder er sah weder wie der eine noch der andere aus. Sam war froh darüber.
Im großen Ganzen war es eine ereignislose, jedoch ermüdende Reise. Sam verbrachte viel Zeit damit, an Nick und seine Eltern zu denken und über die eigene Unzulänglichkeit nachzugrübeln. Bei diesen Überlegungen fiel ihm immer wieder sein erschreckender Widersacher ein. Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass der Nekromant, der ihn gebrannt hatte, für alle derzeitigen Schwierigkeiten verantwortlich war – die nötige Macht dazu besaß er.
Sams quälendste Gedanken aber waren, was er tun sollte und was geschehen mochte. Er sah grauenhafte Bilder vor dem geistigen Auge, und ihm wollte nichts einfallen, wie er den Schrecken beikommen konnte, falls diese Wirklichkeit wurden. Jeden Tag malte er sich grässlichere Bilder aus, und mit jedem Tag wuchs seine Angst, dass Nicholas durch die Blitzfalle bereits etwas Furchtbares entdeckt haben mochte. Vielleicht hatte er sogar schon einen schrecklichen Tod gefunden…
Vier Tage nach seiner Auseinandersetzung mit den Konstablern stand Sam auf einer grünen Hügelkuppe und blickte zum schattigen Rand des Sindelwalds hinab, eines uralten Waldes, der viel größer, dunkler und verwilderter aussah als das Gehölz, in dem Mogget sich ihm angeschlossen hatte. Auch die Bäume schienen höher zu sein, und es gab offenbar keinen Pfad.
Sam nahm diese Eindrücke geistesabwesend zur Kenntnis. Die Sorge um Nick lastete schwer auf ihm; ebenso seine Ängste, was das
Buch der Toten
und die Glocken betraf. Beide Sorgen hingen eng zusammen; Sam schien es ganz so, als könne er seinen Freund nur retten, wenn er sich so rasch wie möglich die Kenntnisse eines Abhorsen aneignete. Falls Nick vom Feind gefangen gehalten wurde, dann wahrscheinlich aus dem Grund, um den Premierminister in Ancelstierre zu erpressen und die Pläne Sabriels und Touchstones zur Rettung der Südlinge zu vereiteln, was zu einer Invasion der Toten und dem Ende des Alten Königreichs führen würde…
Sam seufzte und drehte sich zu den Satteltaschen um. Seine Fantasie geriet außer Kontrolle. Aber was immer auch geschah, er würde sich sehr bemühen müssen, das Buch zu lesen, um der Retter seines Freundes sein zu können.
Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Mogget log. Sam misstraute dem Kater ein wenig, denn er erinnerte sich schwach, dass Mogget das Haus der Abhorsen nie allein verließ. Auf der anderen Seite hätte Sabriel ihn nicht auf eine diplomatische Mission nach Ancelstierre mitnehmen können; deshalb war es möglich, dass sie Mogget erlaubt hatte, das Haus nach Belieben zu verlassen. Nur Sabriel besaß allerdings den Ring, der das Wesen Freier Magie beherrschen konnte, falls Moggets Bann brach. Wenn die Kreatur in Moggets Innerem freikam, würde sie jeden Abhorsen in ihrer Nähe töten – in diesem Fall ihn, Sameth. Bestimmt hätte Sabriel dem Kater nicht erlaubt, das Haus zu verlassen, ohne sicherzustellen, dass er Sam den Ring brachte. Oder nutzte Mogget nur die Gelegenheit, dass Sabriel fort war, so dass er tun und lassen konnte, was er wollte? War er vielleicht sogar vom Feind bestochen worden, Sam zu töten…?
Sam war so sehr mit diesen beängstigenden Gedanken und damit beschäftigt, Sprosse sicher den Hang hinunterzuführen, dass ihn der kalte Schauder, der ihm plötzlich den Rücken hinunterrann, völlig unvorbereitet traf. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er beobachtet wurde – von etwas Totem.
Der alte Reim, den er schon in seiner Kindheit gelernt hatte, fiel ihm ein:
Wandrer, wenn die Toten schreiten,
Dann such dir einen Wasserlauf,
Er hält
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