Das alte Königreich 02 - Lirael
ein verzauberter Pfeil oder Bolzen kann den Schild durchdringen.«
»Aber der Pfeil könnte mit einem besonderen Zauber versehen sein«, gab Lirael zu bedenken. Sie nahm eine trockene Sehne aus einem gewachsten Bündel und spannte sie ein. Der Pfeil mit den Rabenfedern hatte keine Magie enthalten, doch schon beim nächsten Pfeil konnte das Gegenteil der Fall sein.
»Er wird trotzdem nicht so stark sein wie mein Schutz«, entgegnete Sam zuversichtlich – viel zuversichtlicher, als er sich fühlte. Er hatte schon oft Pfeilschutz gezaubert, doch nie in einem tödlichen Kampf. Touchstone hatte Sam diesen Zauber gelehrt, als er erst sechs Jahre alt gewesen war; die Pfeile, mit denen sie geschossen hatten, waren vorn mit Stofffetzen umwickelte Spielzeugpfeile gewesen. Später hatte Sam mit stumpfen Pfeilen geübt, jedoch nie einen echten Kriegspfeil abgeschossen, der einen Zoll dicken Stahl zu durchschlagen vermochte.
Sam saß am Ruder und drehte sich zum Heck um. Dann griff er nach den Charterzeichen, die er brauchte. Für gewöhnlich benutzte er sein Schwert, um den Schutzzauber in die Luft zu zeichnen, doch er hatte gelernt, dass im Notfall auch die Hand allein genügte.
Lirael sah, wie Sams Hände und Finger sich rasch und sicher bewegten. Kurz darauf erglühten Charterzeichen in der Luft und hingen leuchtend innerhalb des Bogens, den seine Fingerspitzen zeichneten. Was Sameth sonst auch sein mag, dachte Lirael – er ist unbestreitbar ein sehr mächtiger Chartermagier. Und er ist ganz sicher kein Feigling, auch wenn er Angst vor dem Tod und den Toten hat.
Lirael selbst jedenfalls würde sich nicht trauen, nur von einem Zauber geschützt dazusitzen und jeden Moment mit einem Armbrustpfeil rechnen zu müssen, der mit tödlicher Geschwindigkeit herangezischt kam. Sie zitterte plötzlich. Wenn
Finderin
nicht eingegriffen hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich bereits tot oder läge sterbend im Speigatt.
Bei diesen Gedanken verkrampften sich ihre Bauchmuskeln, und sie achtete sorgfältig darauf, den Pfeil richtig anzulegen. Wer immer der heimliche Meuchler war, sie würde ihr Bestes tun, dass er bei seinem nächsten Angriff nicht mehr als einen Schuss abfeuern konnte.
Sam beendete den vollen Kreis des Pfeilschutzes, blieb jedoch am Heck. Seine Hände zeichneten weiterhin Chartersymbole, die aus seinen Fingern schossen und sich dem glühenden Kreis über und hinter ihm anschlossen.
»Ich muss sie immer wieder erneuern«, keuchte er. »Haltet Euch bereit! Wir werden gleich drau…«
Und schon stießen sie in den Sonnenschein hinaus. Instinktiv duckte Sam sich, um ein kleineres Ziel abzugeben.
Lirael, die beim Mast kniete und hochschaute, war für einen Moment geblendet. In dieser Sekunde schoss der Meuchler. Der Bolzen zischte zielsicher heran. Lirael schrie eine Warnung, als das schwarz gefiederte Geschoss auch schon auf Sams Pfeilschutz stieß – und verschwand.
»Schnell!«, rief Sam und atmete keuchend. Die Anspannung, den Zauber aufrechtzuerhalten, war seinem Gesicht deutlich anzusehen.
Lirael suchte bereits nach dem Armbrustschützen. Aber es gab viele Fenster und Öffnungen dort oben, sowohl im Fels der Brücke als auch in den Gebäuden auf ihr. Und überall waren Leute und blickten von den Fenstern und Baikonen in die Tiefe. Wie sollte sie da den heimtückischen Schützen entdecken?
Plötzlich erschien die Hündin neben Lirael, hob den Kopf und heulte. Es war ein gespenstischer, hoher Ton, der übers Wasser, die Schlucht empor und durch die ganze Stadt hallte – so laut und durchdringend, als wären am Fluss und in der Stadt plötzlich Wolfsrudel erschienen.
Die Leute waren wie erstarrt. Nur an einem Fenster in halber Höhe bewegte sich etwas. Lirael sah, wie jemand die Läden aufriss und an einer Armbrust hantierte.
Sie visierte den Mann im Fenster an, doch ein plötzlicher Luftzug ließ ihren Pfeil abirren und das Ziel verfehlen. Während Lirael einen neuen Pfeil anlegte, stieg der Meuchler auf den Fenstersims, wo er schwankend stehen blieb.
Die Hündin heulte aufs Neue. Der Attentäter ließ seine Armbrust fallen, um sich die Ohren zuzuhalten. Vergeblich – der schreckliche Laut drang in sein Bewusstsein, und wie von einem fremden Willen gelenkt bewegten sich seine Beine und traten hinaus ins Leere. Mit einem gellenden Schrei, die Hände noch immer an die Ohren gepresst, stürzte er in die Tiefe.
Erst als der Meuchler auf dem Wasser aufschlug, hörte die Hündin zu heulen auf. Sam und Lirael
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