Das alte Königreich 02 - Lirael
und sie musste sich setzen, bis es vorüber war. Den warmen Körper der Hündin im Rücken und die aufmunternd leckende Zunge an ihrem Ohr nahm sie kaum wahr.
»Ich werde das Schwert zurückbringen«, erbot sich die Hündin, als Lirael schließlich zu zittern aufhörte. »Du ruhst dich hier aus, bis ich wieder da bin. Ich beeile mich. Es besteht keine Gefahr.«
Lirael nickte nur stumm. Sie tätschelte den Kopf der Hündin und ließ sich auf die Blumen zurücksinken, deren Blüten sanft über ihre Haut strichen und deren Duft sie umgab. Sie atmete ruhiger, regelmäßiger. Die Lider wurden ihr schwer und ihr fielen die Augen zu.
Die Hündin wartete, bis sie sicher war, dass Lirael schlief. Dann bellte sie einmal kurz. Ein Charterzeichen kam aus ihrem Maul und schwebte über dem schlafenden Mädchen. Die Hündin legte den Kopf schief und begutachtete das Zeichen mit fachmännischem Blick. Zufrieden nahm sie dann das Schwert zwischen die kräftigen Kiefer und verschwand damit hinaus auf die Hauptwendeltreppe.
Als Lirael erwachte, war es Morgen, oder zumindest wieder hell in der Höhle. Eine Sekunde lang glaubte sie ein Charterzeichen über ihrem Kopf zu sehen, aber das war wohl nur ein Traum, denn da war nichts, als sie gänzlich wach war und sich aufsetzte.
Sie fühlte sich steif und wund, doch nicht schlimmer als nach den jährlichen Schwert- und Bogenprüfungen. Das Wams war nicht mehr zu gebrauchen, leider, denn sie besaß nur dieses eine. Jedenfalls hatte sie im Kampf mit dem Stilken keine schweren Wunden davongetragen, die einen Besuch in der Krankenstation notwendig machten. Die Krankenstation… Filris. Einen Augenblick lang war Lirael traurig, dass sie ihrer Ururgroßmutter nicht von ihrem Sieg über den Stilken erzählen konnte.
Filris hätte auch die Fragwürdige Hündin gemocht, ging es Lirael durch den Kopf. Sie blickte hinüber zu dem phänomenalen Tier. Die Hündin hatte sich zusammengerollt und schlief, den Schwanz um ihre Hinterbeine herum bis fast zur Schnauze gewunden. Sie schnarchte leise und zuckte hin und wieder, als wäre sie im Traum hinter Kaninchen her.
Lirael wollte die Hündin gerade wecken, als sie das Buch entdeckte. Jetzt, im Licht, erkannte sie, dass es nicht in Fell oder Tierhaut gebunden war, sondern in dicken, mit einem dicht gewirkten Überzug versehenen Karton, was höchst ungewöhnlich war.
Lirael schlug das Buch auf. Noch bevor sie das erste Wort gelesen hatte, wusste sie, dass es ein Zauberbuch war. Es war gleichsam durchtränkt von Chartermagie. Es gab Zeichen im Papier, Zeichen in der Tinte, Zeichen in der Bindung…
Auf der Titelseite stand nur:
In der Haut eines Löwen.
Lirael blätterte um, in der Hoffnung, ein Inhaltsverzeichnis zu finden, doch es ging sofort zum ersten Kapitel über. Lirael begann zu lesen, als die Schrift plötzlich verschwamm und schimmerte. Sie blinzelte und rieb sich die Augen. Als sie wieder auf die Seite blickte, stand dort »Vorwort«, obgleich sie sicher war, dass dort zuvor »1. Kapitel« gestanden und sie keine Seiten übersprungen hatte.
Lirael schlug die Titelseite wieder auf, runzelte die Stirn und blätterte um. Da war noch immer das Vorwort. Bevor es sich erneut verändern konnte, begann sie zu lesen.
Die Herstellung von Charterhäuten erlaubt dem Magier mehr, als nur das Erscheinungsbild eines Tieres oder einer Pflanze anzunehmen. Eine einwandfrei geschaffene Charterhaut, die auf die vorgeschriebene Art und Weise getragen wird, verleiht dem Magier ganz und gar die gewünschte Gestalt mit allen Besonderheiten, Empfindungen, Vor- und Nachteilen.
Dieses Buch ist eine theoretische Abhandlung über die Kunst der Charterhaut-Herstellung, zugleich eine praktische Einführung für den Gestaltwandlerlehrling und eine vollständige Zusammenstellung sämtlicher Charterhäute, unter anderem für den Löwen, das Pferd, die Kröte, die Taube, die Eberesche und verschiedene andere nützliche Gestalten. Das Studium dieses Buches wird dem eifrigen und gewissenhaften Magier alles Wissen vermitteln, das er benötigt, um seine erste Charterhaut in nur drei bis vier Jahren herzustellen.
»Das ist ein nützliches Buch«, sagte die eben erwachte Hündin und stupste ihre Schnauze über die Seiten, um Lirael zum morgendlichen Kraulen zwischen den Ohren zu ermuntern.
»Sehr nützlich«, pflichtete Lirael ihr bei. »Wenn ich es gelesen habe, werde ich wohl in der Lage sein, in drei bis vier Jahren eine andere Gestalt anzunehmen.«
»In achtzehn
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