Das alte Königreich 02 - Lirael
die ihn mit solch unbeschreiblicher Furcht erfüllte, dass er Angst hatte, den Fremden anzusehen. Instinktiv wusste Nick, dass es der Nekromant war. Resigniert ließ er den Kopf hängen. Der Schirm seiner Cricketkappe schützte sein Gesicht vor dem zweifellos schrecklichen Blick.
»Heb deine Hand!«, befahl der Nekromant, und seine Worte stießen wie glühende Drähte durch Nicks Hirn. Langsam kniete der Junge nieder, den Kopf noch immer gesenkt, als würde er beten, und streckte die Rechte aus, die blutig vom Sturz war.
Langsam näherte sich die Hand des Nekromanten, die Handfläche nach oben. Schaudernd dachte Nick an die schrecklichen Verbrennungen an Sams Handgelenk.
Die Hand des Zauberers hielt nur wenige Zoll entfernt inne. Irgendetwas bewegte sich unter der Haut seiner Handfläche, als versuchte ein Parasit, darunter hervorzukriechen. Dann wurde ein Splitter aus silbernem Metall sichtbar, der sich langsam auf Nicks geöffnete Hand ausrichtete. Er hing eine Sekunde bewegungslos in der Luft, ehe er plötzlich den Zwischenraum übersprang.
Nick spürte, wie der Splitter seine Hand traf, sich durch die Haut bohrte und in seinen Blutkreislauf eindrang. Er schrie, sein Körper wand sich wie in Krämpfen.
In diesem Augenblick sah der Nekromant sein Gesicht zum ersten Mal.
»Du bist nicht der Prinz!«, brüllte er und schwang sein Schwert geradewegs auf Nicks Handgelenk zu. Doch einen Fingerbreit darüber hielt die Klinge abrupt inne, gerade als die Krämpfe endeten und der Junge ihn mit der Hand auf der Brust ruhig anblickte, während der Metallsplitter sich einen Weg durch den komplexen Pfad der Venen bahnte. Hier, auf der falschen Seite der Mauer, war der Splitter schwach, aber immer noch stark genug, um sein Ziel zu erreichen.
Eine Minute später stieß er in Nicholas Sayres Herz, und kurz darauf drang dichter weißer Rauch aus dem Mund des Jungen.
Hedge, der Nekromant, wartete und beobachtete den Rauch, der sich nach einigen Sekunden plötzlich auflöste. Er spürte, dass der Wind nun aus dem Osten blies und seine Zauberkräfte nachließen. Er vernahm das Trappeln vieler Nagelschuhe ein Stück entfernt auf der Straße und hörte das Zischen einer Leuchtrakete unmittelbar darüber.
Hedge zögerte einen Moment, dann sprang er mit übermenschlicher Kraft und Geschicklichkeit auf die Böschung und verschwand zwischen den Bäumen. Von dort beobachtete er, wie die Soldaten sich dem bewusstlosen Jungen vorsichtig näherten. Einige hatten Gewehre mit aufgesteckten Bajonetten, und zwei von ihnen trugen leichte Maschinengewehre. Sie waren keine Bedrohung für Hedge, doch es waren auch andere dabei, die Säbel mit glühenden Charterzeichen trugen und Schilde mit dem Symbol der Perimeterscouts. Diese Männer hatten das Charterzeichen auf der Stirn und waren erfahrene Chartermagier – auch wenn die Armee leugnete, dass es solche Männer in ihren Reihen gab. Es waren genug, um Hedge fern zu halten. Fast alle seine Totenhände waren verschwunden, entweder außer Gefecht gesetzt oder in den Tod zurückgetrieben.
Hedge blinzelte und hielt die Augen ein paar Sekunden geschlossen – sein einziges Eingeständnis, dass dieser Plan gescheitert war. Aber er war seit vier Jahren in Ancelstierre, und seine anderen Pläne trugen Früchte. Er würde sich den Jungen schon noch holen.
Während Hedge in die Dunkelheit floh, legten Sanitäter Nick auf eine Trage. Ein junger Offizier wies die Schüler auf der Hügelkuppe an, mit dem Singen aufzuhören, während Ted und Mike dem noch halb bewusstlosen Sam zu erzählen versuchten, was geschehen war, und ein Armeesanitäter sich die Verbrennungen an Sams Handgelenk ansah und eine Morphiumspritze aufzog.
18
EINES VATERS HEILENDE HAND
Das Krankenhaus in Bain war verhältnismäßig neu. Es war erst vor sechs Jahren erbaut worden, als man im Süden eine Vielzahl von Gesundheitsreformen beschlossen hatte. In diesen sechs Jahren hatten bereits viele Patienten das Zeitliche gesegnet, und das Krankenhaus lag nahe genug an der Mauer, dass Sams Gefühl für den Tod wach blieb, zumal er, von den Schmerzen und dem Morphium geschwächt, nicht im Stande war, dieses Todesgefühl zu vertreiben. Stets war es bedrohlich nahe und füllte seinen ganzen Körper mit schneidender Kälte, so dass er ständig bibberte und die Ärzte ihm noch mehr Morphium gaben.
Er träumte von körperlosen Kreaturen, die aus dem Tod kommen und beenden würden, was der Nekromant begonnen hatte. Es waren
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