Das alte Königreich 02 - Lirael
grauenhafte Träume, aus denen er sich nicht zu befreien vermochte. Erwachte er doch, sah er den Nekromanten näher kommen und schrie wie am Spieß, bis die Schwester ihm eine weitere Spritze gab, worauf der Albtraumzyklus aufs Neue begann.
Vier Tage trieb Sam zwischen Bewusstlosigkeit und Wachzustand dahin, und nie verlor er das Gefühl des Todes und die Furcht, die diese Empfindung begleitete. Manchmal war sein Verstand klar genug, dass er Nick mit verbundener Hand im Bett neben sich liegen sah. Manchmal unterhielten sie sich sogar für kurze Zeit, doch ein richtiges Gespräch wurde es nie, da Sam weder Fragen beantworten noch dort weiterreden konnte, wo Nick begonnen hatte.
Am fünften Tag jedoch änderte sich alles. Sam war wieder einmal in den Klauen eines Albtraums und hatte es mit einem Nekromanten zu tun, der ihn in den verschiedensten Gestalten bedrohte und sich gleichzeitig im, unter und über dem Wasser befand. Sam rannte, fiel und drohte zu ertrinken… und dann kam der rettende Griff, diesmal jedoch nicht ums Handgelenk, sondern um Sams Schulter, nicht schmerzhaft und brennend, sondern kühl und tröstlich, ein Griff, der ihn aus dem Albtraum riss und durch den Himmel hob, erfüllt von Charterzeichen und Sonnenschein…
Als Sam die Augen öffnete, konnte er zum ersten Mal klar sehen; sein Blick war frei von Drogenvisionen und Schwindelgefühl. Er spürte sanfte Finger auf seiner Halsschlagader und wusste, noch ehe er aufblickte, dass es die Hand seines Vaters war. Touchstone stand neben ihm und hatte die Augen geschlossen, während er einen Heilzauber in den Körper seines Sohnes schickte, wobei die Zeichen unter seinen Fingern blitzten und lautlos in Sam eindrangen.
Sam blickte zu Touchstone auf. Er war dankbar, dass sein Vater die Augen geschlossen hatte, denn so konnte er nicht sehen, wie sein Sohn vor Erleichterung weinte. Hastig wischte Sam die Tränen weg und gab sich ganz dem Hochgefühl hin, wieder in der Welt der Lebenden zu weilen. Durch die Chartermagie spürte er zum ersten Mal seit Tagen ein Gefühl der Wärme, das seinen Körper erfüllte – eine Wärme, die die Drogen aus seinem Blut spülte und gleichzeitig die Schmerzen seiner Verbrennungen verschwinden ließ. Doch es war einzig die Gegenwart seines Vaters, die jene zerstörerische Furcht vor dem Tod vertrieben hatte. Sam konnte den Tod zwar noch spüren, jedoch sehr fern und verschwommen, so dass er sich nicht mehr fürchtete.
König Touchstone beendete den Zauber und schlug die Augen auf. Sie waren grau wie die seines Sohnes, doch sie blickten besorgt aus einem müden Gesicht. Behutsam nahm er die Hand von Sams Hals.
Erst jetzt sah Sam, dass sich zwei Ärzte, vier von Touchstones Wachen und zwei ancelstierrische Armeeoffiziere im Zimmer aufhielten. Und vom Flur aus spähten ancelstierrische Polizisten, Soldaten und Beamte durch die offene Tür ins Zimmer herein.
Die Ärzte wunderten sich, dass Sam bei klarem Verstand war; einer studierte die Patientenkarte am Fuß des Bettes, um sich zu vergewissern, dass Sam tatsächlich seit Tagen Morphium gespritzt bekommen hatte.
»Das ist unmöglich!«, stieß der Arzt hervor und wollte noch etwas hinzufügen, doch ein eisiger Blick von Touchstones Wachen bedeutete ihm, den Mund zu halten. Mit einer Geste gab man ihm zu verstehen, dass seine Anwesenheit nicht mehr benötigt wurde, und er ging rückwärts zur Tür. Wie der König trugen auch die Wachen dreiteilige Anzüge in dezentem Dunkelgrau, um die ancelstierrische Etikette nicht zu verletzen; zugleich aber waren sie mit Degen bewaffnet.
»Mein Gefolge«, sagte Touchstone, als er bemerkte, dass Sam die Leute auf dem Korridor entdeckt hatte. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich als Privatperson gekommen bin, um meinen Sohn zu holen. Aber wie es aussieht, erfordert auch das eine offizielle Eskorte. Ich hoffe, du fühlst dich kräftig genug, um mit mir fortzureiten, denn wenn wir noch länger hier bleiben, wird mir bestimmt irgendein Ausschuss oder Politiker ein Loch in den Bauch reden.«
»Reiten?« Sams Stimme klang schwach und heiser vor Anstrengung. »Ich soll die Schule vor dem Abschluss verlassen?«
»Ja«, antwortete Touchstone leise. »Ich möchte dich zu Hause haben. Ancelstierre ist keine sichere Zuflucht mehr. Die Polizei hat euren Busfahrer gefasst. Man hatte ihn mit Silberdeniers aus dem Alten Königreich bestochen. Das bedeutet, dass zumindest einer unserer Feinde eine Möglichkeit gefunden hat, zu beiden Seiten der Mauer
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